Kreuzberger Chronik
Oktober 2005 - Ausgabe 71

Die Literatur

Zu weit draußen


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von Johannes Groschupf

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Die Hasenheide roch nach nassem Laub, als ich in der ersten Septemberwoche um sieben Uhr dreißig meinen Dienst antrat. Ich hatte drei Stunden geschlafen und stand mit sechs weiteren Sozialhilfeempfängern vor dem Büro des Gartenbauamtes. Die meisten rauchten und beschwerten sich über die Unverschämtheit, daß gerade sie zum Laubharken eingeteilt worden waren.

Der junge Kamenz, den ich von gemeinsamen Wartestunden vor Zimmer 361 bereits kannte, berichtete von einem Arztbesuch, um sich einen drohenden Bandscheibenvorfall bestätigen zu lassen. Doch der Arzt hatte sich geweigert, ihm ein Attest auszustellen. »Man wird hier nur verarscht«, meinte Kamenz bitter und erntete mitfühlende Blicke. Drei Frauen gehörten zu unserer Gruppe; Frau Fiese, eine schwergewichtige Kreuzbergerin, dann Susanne, eine Studentin, die vor einiger Zeit ihre ordnungsgemäße Rückmeldung zum nächsten Semester vergessen hatte und sich nun ebenfalls betrogen fühlte, und eine Tanja. Tanja trug einen Pferdeschwanz und lachte nie. Ich mochte sie, und wenn der Einsatzleiter die Arbeitsgeräte verteilte, sah ich zu, daß ich mit Tanja in eine Gruppe kam, allein wegen ihres Pferdeschwanzes, der beim Harken rhythmisch auf und nieder wippte.

Der Einsatzleiter, Herr Metschurat, hielt die ihm zugewiesenen Aushilfen grundsätzlich für arbeitsscheu und schritt nach unserem Arbeitsende die Wege sorgfältig ab, ehe er seine Unterschrift auf den Einsatzbögen leistete. Jede Zigarettenkippe, die wir übersehen hatten, hob er mit gespitzten Lippen auf und zeigte sie stumm und anklagend in die Runde. Er hatte schon viele Stützeempfänger kommen und gehen sehen, und kein einziger von ihnen hatte je die Arbeit zu seiner Zufriedenheit getan. Anfangs versuchte ich, seine Gunst zu erwerben, indem ich rasch und gründlich harkte, auch das Laub des Vorjahres unter den Büschen hervorkratzte und mich nach weiteren Einsätzen erkundigte. Das fanden allerdings meine Kollegen überhaupt nicht in Ordnung. Sie stützten sich mürrisch auf ihre Harken und Schaufeln, beobachteten meine Anstrengungen und schnippten ihre halbgerauchten Zigaretten auf die von mir sorgsam freigeharkten Flächen, so daß ich in den Pausen, meist an der Seite von Metschurat, zurückkehren und nacharbeiten mußte. Fortan hielt mich Metschurat für einen besonders sturen Drückeberger. Nach wenigen Tagen bewegte ich mich ebenso langsam und kraftschonend wie die anderen, unterhielt mich mit dem jungen Kamenz über die anstehenden Bundesliga-Begegnungen und betrachtete versonnen Tanjas Pferdeschwanz. Die frische Luft tat mir gut, ich fühlte mich bald heiterer als in den Wochen zuvor. Nach Arbeitsende ließen wir uns alle noch für eine halbe Stunde auf einer Parkbank nieder, um den Feierabend zu begießen. Der junge Kamenz war Alkoholiker und zitterte bereits am frühen Nachmittag so sehr, daß ich ihm seine erste Dose Bier aufreißen mußte. Der dritte Mann nannte sich Vossi und engagierte sich in einer Arbeitsgruppe gegen Scientologen. Von ihnen hatte er sich den Trick abgeschaut, seinen Gesprächspartnern so lange unverwandt in die Pupillen zu schauen, bis sie den Blick abwendeten. Das verlieh ihm eine Art Machtgefühl, an dem er sich gern berauschte, auch wenn es ihm bei den anwesenden Damen keine Pluspunkte einbrachte. Vossi fühlte sich von Metschurat persönlich und vom Bezirksamt Kreuzberg mittelbar schamlos ausgebeutet, was schon der kümmerliche Stundenlohn bewies. Darin immerhin stimmten wir anderen ihm vorbehaltslos zu. Wenn wir morgens zu einem neuen Einsatzgebiet am Ende des Parks wanderten, sangen wir gern das »Lied von den Moorsoldaten«.

Entnommen aus Johannes Groschupf, »Zu weit draußen«, erscheint diesen Monat bei Eichborn, Preis: 17,90 Euro, ISBN 3821857544. Johannes Groschupf liest am 10. November in der Buchhandlung Anagramm


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