Kreuzberger Chronik
Juni 2005 - Ausgabe 68

Kreuzberger Legenden

Geister und Orte


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von Dr. Seltsam

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Es gibt den lateinischen Begriff vom »genius loci«, der »Geist des Ortes«, der an denselben Stellen immer wieder zu ähnlichen Ereignissen führt, trotz Überbauung, Umbenennung, Übersiedlung und Veränderung der Gesellschaftsordnung. Die Kreuzberger Oranienstraße scheint in solchem sagenhaften Feld zu liegen, denn seit anderthalb Jahrhunderten gibt es hier immer wieder Mieterunruhen und Prügelorgien der Staatsgewalt.

So war dem Gastwirt Schulz in der Oranienstraße 64 von seinem Hauswirt zum 1. Juli 1863 gekündigt worden, weil er einen hohen gemauerten Kachelofen durch einen kleinen Eisenofen ersetzt hatte, um Platz für einen weiteren Tisch im Schankraum zu erhalten. Gastwirt Schulz informierte seine Mitmieter, befreundete Aufrührer aus der Kreuzberger Nachbarschaft sowie seine Kunden, handfeste Möbelpacker und »Kerle«, die hier gerne ihre Abendmolle tranken. Am Vorabend der Räumung trafen sich alle, und in einem spontanen Aufbegehren wurden dem Hausbesitzer erst einmal die Fensterscheiben eingeworfen. Der kleine nächtliche Aufruhr sprach sich herum wie ein Lauffeuer, und am nächsten Tag gesellten sich Ladenmädchen, Schulkinder und Neugierige zu dem Pulk, der die Räumung verhindern wollte. Wie so oft in Kreuzberg ging die Polizei gegen die Menge vor, und es gab die ersten Verletzten unter den Schaulustigen.

Damals gab es noch kein Tränengas, sondern die Polizei ritt mit gezogenem Säbel mitten in die Menge hinein, zunächst mit der Breitseite der Säbel schlagend, was aber auch nicht ganz ungefährlich war. Schon damals zeigten die Kreuzberger Einwohner eine bemerkenswerte Eigenschaft, die bis heute geblieben ist: Sie ließen sich nicht einschüchtern, und statt wie befohlen einzeln nach Hause zu schleichen, sammelten sie sich in den folgenden Tagen immer wieder und lieferten sich Straßenschlachten mit der Polizei.

Die Kämpfe eskalierten. Vor allem um den Moritzplatz herum kam es in den ersten drei Tagen zu Zusammenstößen. Mittlerweile strömten aus allen Stadtteilen jugendliche Demonstranten hinzu und lieferten sich blutige Schlägereien mit der säbelschwingenden Polizei. Dann wurden in der Dresdener Straße, die noch nicht so breit und durch das NZ verriegelt war wie heute, sogar Barrikaden errichtet. Am Abend des 5. Juli 1863 zählten die Aufrührer Hunderte von Verletzten, und die Polizei gab über 400 Verhaftungen bekannt. Sie bekam die Unruhen nicht in den Griff, und das Gespenst der Berliner Revolution von 1848, damals immerhin erst 15 Jahre zurückliegend, erhob wieder sein Haupt in den Amtsstuben der preußischen Stadtverwaltung. Schließlich kam das berühmte Berliner schlechte Wetter, und tagelanger Dauerregen vertrieb vorerst die Leute von den Straßen.

Der Krieg blieb unentschieden, die Aufruhrbereitschaft immer erhalten. Neun Jahre später brachen erneut Straßenkämpfe aus, wieder an Mieterräumungen entzündet, die sogenannten »BlumenstraßenKrawalle« zitterten in Kreuzberg nach. Im Juli 1872 marschierte sogar Militär mit Kanonen in der Skalitzer Straße auf, um die Gegend zu beruhigen. Ähnlich, wie die Kreuzberger Unruhen der 90er Jahre in der Wahl des ersten linken GrünenDirektkandidaten Ströbele mündete, erwarb 1887 die damals noch linke Sozialdemokratie das erste Direktmandat für den Reichstag im Wahlkreis Luisenstadt für Wilhelm Liebknecht.

Genützt hat es damals sowenig wie heute. Doch auch bei der nächsten Bundestagswahl dürfte Kreuzberg einer der am heißesten umkämpften Wahlbezirke werden, wenn es um die Nachfolge des Linkspopulisten Ströbele geht. Offenbar ist hier der Fleck im Reich, wo kleine linke Siege möglich sind. Vielleicht gibt es sogar eine gemeinsame linke Kandidatur. Denn Kreuzberg ist, wie seit hundertfünfzig Jahren bewiesen, immer für eine Überraschung gut.

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