Kreuzberger Chronik
April 2005 - Ausgabe 66

Die Geschichte

Muratti - eine Legende aus Kreuzberg


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von Werner von Westhafen

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Schlecht bezahlte Arbeiter aus fremden Ländern waren nicht nur die Sklaven Amerikas, oder die italienischen und türkischen Gastarbeiter Europas. Schlecht bezahlt waren schon die vielen türkischen Tabakdreher, die man gleich mit dem Orienttabak aus Konstantinopel mitimportierte, der Ende des 19. Jahrhunderts in die Mode kam. Tausende »türkischer Gastarbeiter« arbeiteten um die Jahrhundertwende in der Berliner Cigarettenindustrie. Schon damals dürften einige von ihnen in jenem Stadtteil gewohnt haben, den man heute Kreuzberg nennt. Schließlich kam die berühmteste Berliner Zigarette aus dieser Ecke der Stadt: Muratti. In den Zwanzigerjahren war sie der Star unter den Zigaretten, nach dem Krieg avancierte die Muratti AG zum größten tabakverarbeitenden Betrieb Berlins. Bis 1960 der Tabakmulti Martin Brinkmann die Aktienmehrheit erwarb, der seinerseits wieder von der englischen Rothmans-Gruppe geschluckt wurde. So ist der Lauf der Dinge.

Immerhin ist Muratti bis heute eine Legende unter den Zigaretten. Die flachen Schachteln aus Blech mit der goldenen Aufschrift Muratti Ariston und ihren sorgfältig einsortierten Zigaretten  das Emblem mit der Krone zeigte auf jeder Zigarette stets nach oben  umgab die Aura des Luxus. Eine Packung Muratti Ariston  »smoked by royality and nobility«  soll auf den Tischen der vornehmen Salons im Berlin der Zwanzigerjahre so viel wert gewesen sein wie eine Kreditkarte. Tatsächlich waren die Nobelzigaretten so kostspielig, als säßen noch immer Fes-tragende Osmanen in den Fabrikationsstätten und drehten die Zigaretten in mühseliger Handarbeit. Dabei waren es längst Maschinen, die die kleinen weißen Papierschläuche mit Tabak füllten.

Schon, als im August 1906 die Firma B. Muratti Sons & Co. Limited aus Konstantinopel in Berlin ihre Dependance eröffnete und in der Köpenicker Straße mit der »Originalherstellung« von Orientzigaretten begann, drehten dort die Maschinen, die flinken Finger der Zigarettendreher an den langgestreckten Tischen der Tabakmanufakturen gehörten bereits der Vergangenheit an. Doch nach wie vor achtete Sophokles B. Muratti, der griechische Chef des Unternehmens, penibel auf eine sorgsame Verarbeitung des Tabakblattes, was wesentlich dazu beitrug, dem blonden, duftenden Orienttabak die Aura von Aristokratie zu verleihen.

Und der zarte Orienttabak hielt Einzug in Cafés und Restaurants. Vorbei waren die Zeiten, als das Rauchen nur in den Tabagien vor den Stadtmauern und in den Vergnügungsparks der Hasenheide erlaubt war. Vorbei die Zeiten, als in den deutschen Tabakspinnereien dunkler, starker Inländer-Tobak zu qualmenden Glimmstengeln verarbeitet wurde, die jeder Frau und auch den gestandenen Männern Tränen in die Augen trieben. Vorbei auch längst die Zeiten, als die grünen Blätter der von Kolumbus importierten Pflanze in den Apotheken noch als Wundermittel gegen Hautkrankheiten gehandelt wurde, und als der Franzose Jean Nicot mit Tabak noch Kopfschmerzen und Gicht bekämpfte. Weshalb man dem heilenden Wirkstoff des Tabaks den heute so verruchten Namen »Nicotin« gab. Jetzt wurde der Tabak ein Genußmittel der feinen Kreise.

Die Verpackungen deutscher Zigaretten wurden immer exotischer, und immer neue, orientalischer klingende Namen belebten den deutschen Zigarettenmarkt. Muratti aber war die Krönung unter ihnen. Muratti Ambassador, Muratti Cabinett, Muratti Ariston und Muratti Privat, sie alle zusammen bescherten dem Unternehmen hohe Gewinne.


Bis 1939 die Heeresverwaltung die gesamte Produktionsstätte in der Köpenicker Straße beschlagnahmt. Muratti muß in die Kommandantenstraße Nummer 20 umziehen. Drei Jahre später jedoch legen die Nazis den Betrieb komplett still, und zum Ende des Krieges ist aller Tabak in der Stadt verraucht. Die Berliner stehen Schlange für eine Packung »Sondermischung«, und auf dem Schwarzmarkt bringt eine Stange amerikanischer Zigaretten 1000 Reichsmark ein.

Wieder einmal gehen die Amerikaner als die Gewinner aus der Katastrophe hervor, denn nach dem Krieg setzen sich amerikanische Tabaksorten auf dem Markt durch. Nicht mehr türkische Zigaretten, sondern Virginia ist gefragt, American Blend löst den Mythos Orient ab. Was in Berlin raucht, kommt aus den Vereinigten Staaten. Versuche der griechischen Besitzer der B. Muratti Sons & Co. Limited, in Berlin die Zigarettenproduktion wieder aufzunehmen, sabotiert die amerikanische Besatzungsmacht, indem sie dafür sorgt, daß Muratti keine Rohtabakkontingente erhält.

Erst ein Bericht der Berliner Zeitung vom Februar 1948 macht die Öffentlichkeit auf die beinah unzerstörte Zigarettenfabrik in der Kommandantenstraße Nummer 20 aufmerksam. Es ist die Zeit des Wiederaufbaus, überall werden aus Trümmern und Wellblech Fabrikationsstätten errichtet, aus veralteten Maschinenteilen neue zusammengebaut, um die Wirtschaft anzukurbeln. Eine intakte, leerstehende Fabrik ist in diesen Zeiten ein Skandal. Im Oktober desselben Jahres geben die Amerikaner nach. Dreißig Männer finden in den ersten Monaten bei Muratti Arbeit. Bis die bewährten Orienttabake wieder zur Verfügung stehen, verarbeiten sie einheimische Tabake kleiner Pflanzungen. Später mischen sie türkische und amerikanische Tabake, und wieder profitieren die Amerikaner. Auch wenn der Zigarette namens Muratti noch immer ein Hauch des Orients anhaftet.

Tabakfabrik Planta in Kreuzberg Foto: Dieter Peters
1960 endlich übernimmt die Brinkmann AG die Firma, 1963 übersteigt der Umsatz 88 Millionen DM. Doch von der edlen Zigarette ist nur noch ein edler Name geblieben. Lux Filter heißt die neue Zigarette, die Brinkmann in dem Kreuzberger Betrieb mit über 300 Angestellten produzieren läßt. Bis zu 300 Millionen Zigaretten der neuen Modemarke werden im Monat produziert. Tabake aus dem Orient werden keine mehr verwendet, American Blend liegt voll im Trend. 1975, als die unschuldig weiße Packung Lux ihren Dienst getan hat und die Verkaufszahlen zurückgehen, wird das Kreuzberger Werk stillgelegt.

Doch immerhin: Es blieb der Name. Er steht noch heute auf einigen Zigarettenschachteln der Rothmans-Gruppe. Nicht mehr ganz so edel geschwungen, nicht mehr mit goldenen Schriftzügen auf Fes-rotem Untergrund, sondern schlichter, bescheidener. Aber man ahnt, daß Muratti einmal etwas Besseres war. Noch immer ist die Packung stilvoll  von den schwarzen Rändern der Traueranzeigen, die mit Herz-Lungenversagen und dem Krebsgespenst drohen, einmal abgesehen.


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