Kreuzberger Chronik
September 2004 - Ausgabe 60

Kreuzberger Legenden

Kreuzberger Legenden (7):
Die Mauer in memoriam zum 17. August 1962



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von Dr. Seltsam

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Einer der ersten Mauertoten war Peter Fechter, der an dem nach Kreuzberg vorspringenden Straßendreieck Zimmerstraße Ecke Charlottenstraße unter den Objektiven der Weltpresse eine Stunde lang wimmernd verblutete. Heute beherrscht die Springer-Passage das Gelände, und auch damals war eine heimliche Beteiligung der Westpresse und der Geheimdienste nie ganz von der Hand zu weisen. Erstaunlich oft bei spektakulären Fluchtaktionen waren RIAS-Life-Übertragungswagen und Fernsehkameras schon vor der Aktion vor Ort, was man den Bildern bei kritischer Würdigung ansehen kann. Etwa der berühmteste aller Flüchtlinge, der Grenzsoldat, der über die Stacheldrahtrollen springt, hat später in einem Interview ausgesagt, daß er ein bißchen gewartet hat, bis der Fotograf alles richtig eingestellt hatte. Nicht selten sind die Aufnahmen jener Vorgänge, die nur wenige Sekunden dauerten, erstaunlich gut gelungen. Wenn man die Bilder in Rainer Hildebrandts Museum am Checkpoint Charlie unter diesem Gesichtspunkt studiert, wird man einige Überraschungen erleben.

Woher wußten die Westsender, wo sich ganze Familien spektakulär mit reißenden Bettlaken aus zugemauerten Wohnzimmerfenstern abseilen würden? Die Verbindungen waren nie ganz unterbrochen, es gab das SPD-Ostbüro, es gab Hildebrandts »Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit«, es gab die Kirchen und an die »achtzig Spionage- und Diversantengruppen«, wie die DDR empört zählte. Selbst für den Asta der FU gehörte es zum guten Ton, Kommilitonen bei der Flucht aus der DDR zu helfen. Asta-Chefs waren damals Eberhardt Diepgen, der spätere Berliner Bürgermeister, und der Astronaut Furrer, schon damals ein Abenteurer. Ihre Gruppe buddelte einen Tunnel unter den Sperranlagen hindurch, aus dem heraus bei ihrer Entdeckung ein DDR-Polizist erschossen wurde. Der Täter wurde nie enthüllt, in einem Interview sagte Furrer sinngemäß: Der Diepgen war’s nicht, der war selbst dafür zu – harmlos.

Nach 1989 konnte man die Berichte der Mauerschützen einsehen, und es offenbarte sich eine gefährliche Hilflosigkeit. Der Westen war wegen der Mauerflüchtlinge in Aufruhr geraten und der Osten schwer verunsichert: »Polizei und Zivilpersonen, insgesamt etwa fünfzig, … richteten ihre Waffen auf die Grenzposten … trugen eine Leiter an die Mauer … und fotografierten unmittelbar an der Mauer auf der Leiter stehend den verletzten Grenzverletzer. Sprengsätze und Knallkörper wurden auf unser Territorium geworfen und unsere Grenzposten waren der Meinung, daß die »Duepos« (die Westberliner Duensing-Polizei, benannt nach dem damaligen Polizeipräsidenten Duensing) das Feuer eröffnet hätten … Eine Menschenansammlung von 200-300 Personen … provozierten unsere Grenzposten und forderten die Duepos auf, das Feuer auf unser Territorium zu eröffnen.«

Die Westberliner jedenfalls sahen sich im Recht – und hätten in ihrer Erregung beinahe einen 3. Weltkrieg angezettelt. Hauptsache, die Bildzeitung war auf ihrer Seite. Das Ganze wäre weniger beunruhigend, wenn sich alle diejenigen, die damals so laut gegen die Mauer zeterten und Tür und Tor zur Bundesrepublik öffnen wollten, heute ebenso laut für jene Afrikaner einsetzen würden, die ebenso gern zu uns wollen. Doch Afrikaner sind eben keine DDR-Flüchtlinge.

Literaturhinweis: H. Behrendt, Die Mauer-Schneise, Elefantenpress 1994

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