Kreuzberger Chronik
September 2004 - Ausgabe 60

Der Kommentar

Sommernachlese


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von Thomas Heubner

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Gott sei Dank – es ruckt endlich wieder. Das Fanal kam vom Bundespräsidenten. Freudig rühmte er den offiziellen EM-Ball, den es ohne heiße Luft, sprich deutsches Know-how, so nicht gegeben hätte. Allerdings wird die Lederkugel in Asien produziert. Trotzdem eine wunderbare Erfolgsstory und ein Beispiel für die Erneuerung, die wir so dringend bräuchten, für den Ruck, den bereits sein Vorvorgänger angemahnt hatte. Schon vor sieben Jahren. Doch was ist eigentlich aus den alten Ruck-Aktionen geworden? Beispielsweise in Kreuzberg?

Im vergangenen Jahr hatte Wirtschaftsstadtrat Postler verkündet, den Gondelverkehr auf dem Landwehrkanal wieder aufzunehmen. Arbeitslose Jugendliche sollten mit Hilfe des Arbeitsamtes die dafür erforderlichen Gondeln bauen. Und nun? Schipperten in diesem Jahr Gondoliere auf Kreuzberger Gewässern? Wie viele junge Ich-AGler konnten sich mit den Gondeln über Wasser halten und Hartz IV entkommen?

Oder die andere Botschaft von Herrn Postler, daß sich unser Bezirk nun endlich am zentralen Tourismus-Wegeleitsystem der Hauptstadt beteiligt, das die Besucherströme narrensicher zu den Sehenswürdigkeiten Kreuzbergs lotst. So wie nach Herrn Lehmanns grandiosem Leinwanderfolg: Heerscharen von Touristen aller Herren Länder, die von der Markthalle zum Kotti pilgern, Geschäfte und Kneipen bevölkern und ihr gutes Geld bei uns ausgeben. Damit das Finanzamt Kreuzberg endlich wieder Einnahmen verbuchen kann. So wie die Londoner im Stadtteil Notting Hill. Nach dem reizenden Film mit Julia Roberts und Hugh Grant wurde Notting Hill Kult und von Touristen regelrecht überrannt. Seitdem laufen dort die Geschäfte bombig, die Mieten explodieren. Das hätten die Kreuzberger auch haben können!

Oder das Desaster mit Kreuzbergs sprudelnden Quellen. Im Pamukkale-Brunnen im Görlitzer Park konnten heutige ABC-Schützen nur als Babys planschen, seit sechs Jahren verrottet die Anlage. Hat das kein Geld gekostet, trägt niemand die Verantwortung? Oder der Wasserfall im Viktoriapark! Um von der kostspieligen Wasserversorgung unabhängig zu sein, wurden Brunnen gebohrt und Pumpen installiert. Im vergangenen Jahr plätscherte das Wasser noch fröhlich, ein paar Monate später sucht das Bezirksamt schon wieder Sponsoren, denn jetzt fehlt ihnen das Geld für den Strom. 20.000 Euro – eine Summe, die etwa dem monatlichen Ruhegeld des Herrn Landowsky entspricht.

Doch es gibt auch gute Nachrichten aus unserem Heimatbezirk. Wahrscheinlich können wir schon bald auf dem Gleisdreieck über den gepflegten Naturrasen einer exklusiven Driving Range stolpern und mit kleinen Golfbällen rumballern. 35 Abschlagplätze soll es geben und 250 Meter lange Bahnen. Da brauchen wir nicht mehr umständlich zum Golfen nach Marbella zu fliegen oder ins Brandenburgische Umland zu fahren. Vielmehr können wir gleich um die Ecke in der Mittagspause oder nach Büroschluß unser Handicap verbessern. Vorausgesetzt, man bezahlt die Beitrittsgebühr von 500 und den Jahresbeitrag von 980 Euro.

Also wer sagt’s denn? Entlang der Spree, vom Görli bis zum Gleisdreieck bebt die Landschaft. Ich, du, wir – rucken wie verrückt. Keinem wird es schlechter gehen als zuvor. Alles wird besser, aber nichts wird gut. <br>

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