Kreuzberger Chronik
Oktober 2004 - Ausgabe 61

Die Literatur

Gerhard Seyfried: »Der schwarze Stern der Tupamaros«


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von Gerhard Seyfried

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DIE RECHTSRADIKALE WEHRSPORTGRUPPE HOFFMANN HÄLT IN BAYERN EINE DREITÄGIGE SOGENANNTE WEHRÜBUNG AB: DER BAYERISCHE INNENMINISTER GEROLD TANDLER (CSU) ERKLÄRT DAZU, DARAN SEI NICHTS STRAFBAR, SOFERN DABEI DIE EINHALTUNG GESETZLICHER BESTIMMUNGEN, ZUM BEISPIEL DER STRASSENVERKEHRSORDNUNG, GEWÄHRLEISTET SEI.
RECHTSANWALT KLAUS CROISSANT WIRD VOM LANDGERICHT STUTTGART WEGEN ANGEBLICHER UNTERSTÜTZUNG DER ROTEN ARMEE FRAKTION ZU ZWEIEINHALB JAHREN GEFÄNGNIS OHNE BEWÄHRUNG UND VIERJÄHRIGEM BERUFSVERBOT VERURTEILT.
IM SIEBTEN KOLLEKTIVEN HUNGERSTREIK FORDERN ÜBER 70 POLITISCHE GEFANGENE DIE ABSCHAFFUNG DER ISOLATIONSHAFT, DIE ANWENDUNG DER MINDESTGARANTIEN DER GENFER KONVENTION, DIE ZUSAMMENLEGUNG DER GEFANGENEN IN INTERAKTIONSFÄHIGE GRUPPEN SOWIE DIE FREILASSUNG DES HAFTUNFÄHIGEN GÜNTER SONNENBERG.
AUS EINER REPRÄSENTATIVEN UMFRAGE GEHT HERVOR, DASS EIN DRITTEL ALLER DEUTSCHEN BEAMTEN NOCH NIE DAS GRUNDGESETZ GELESEN HAT.
BUNDESINNENMINISTER GERHART BAUM (FDP) MUSS ZUGEBEN, DASS DAS BUNDESKRIMINALAMT IN WIESBADEN UNTER SEINEM PRÄSIDENTEN HORST HEROLD PERSÖNLICHE DATEN VON 3 MIO BUNDESBÜRGERN ERFASST HAT UND VERSPRICHT, DIESE DATENSAMMLUNG ZU BEGRENZEN.


Ein Sonntagmorgen Ende April. Schwarz stehen die beiden Bleistift-Türme des Kunstamts Bethanien vor der aufgehenden Sonne. Fred war um halb fünf wach und konnte nicht mehr einschlafen, darum schlendert er jetzt durch die noch leere Muskauer Straße zum Mariannenplatz. Trotz der frühen Stunde ist ein Hauch von Frühling in der Luft, und er wünscht sich, er könne sich wieder verlieben, in irgendeine ganz normale junge Frau. Da flattert ihm etwas vors Gesicht, wie ein weißer Schmetterling, und auf einmal schneit es rings um ihn, Papierstückchen schweben herab, ein bißchen zu groß für Konfetti. Er schnappt eins aus der Luft und sieht, es ist ein kleines Hakenkreuz, aus kariertem Schreibpapier ausgeschnitten, es mißt etwa 2 x 2 cm. Fred blickt auf, eine ganze Wolke aus kleinen Swastikas schneit da herunter. Er sucht die graue Fassade ab, die vielen Fenster, sieht aber niemand, der das getan haben könnte. Ganz verdutzt schüttelt er den Kopf: Wer kippt denn da so früh am Morgen Hakenkreuze aus dem Fenster? Es muß eine ganze Salatschüssel voll gewesen sein! Im Weitergehen malt er sich einen verbitterten, alten Nazi aus, einen Rentner, der sich langsam zu Tode langweilt und tagaus, tagein kleine Hakenkreuzchen ausschnippelt. Aber daß er ausgerechnet gewartet hat, bis er, Fred, des Weges kam? Er fährt sich mit den Fingern durch die Haare, und tatsächlich stecken da noch zwei von den verdammten Dingern.

Nachmittags fährt er ins sogenannte obere Kreuzberg und parkt auf der Rückseite der Marheinekehalle. In einem Café trinkt er einen Espresso und liest Zeitung. Als er zu seinem Daimler zurückkommt und gerade aufschließen will, wird er von hinten angesprungen und zu Boden gerissen. Es geht so schnell und überraschend, daß er zu keiner Gegenwehr kommt. Einer kniet auf ihm, biegt ihm die Hände auf den Rücken, ein zweiter legt die Handschellen an. Sie zerren ihn hoch und durchsuchen seine Taschen, nehmen seinen Ausweis und seine Autoschlüssel. Noch zwei kommen dazu, Zivile in Jeans und Lederjacken, grimmige Visagen, einer hat eine Pistole in der Hand, die schiebt er jetzt umständlich ins Schulterhalfter zurück. »Was soll das?« will Fred wissen. »Halts Maul!« ist die Antwort. Zwei BMWs und ein Polizeibus halten am Straßenrand. Die Zivis stoßen ihn in den VW-Bus und eskortieren ihn zum Staatsschutz im Flughafengebäude am Tempelhofer Damm.

Gerhard Seyfried, Der schwarze Stern der Tupamaros, Eichborn Berlin, ISBN 3-8218-0754-7

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