Kreuzberger Chronik
November 2004 - Ausgabe 62

Die Reportage

Pilotprojekt Bergmannstraße


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von Bernd Schulz

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Es könnte alles ganz anders sein. Jeder, egal ob er ein Restaurant, einen Blumenladen, einen Kosmetiksalon, eine Lebensmittelfiliale oder eben nur eine Wohnung in der Straße hat, dürfte Tische und Stühle vor die Tür stellen. Blumen und Radios. Vogel- und Hamsterkäfig. Gemälde- oder Briefmarkensammlung …

Überall säßen die Leute beim Essen und Trinken bis spät in die Nacht, unterhielten sich über die Tische hinweg, spazierten von einem Geschäft zum andern, kauften Fisch und Fleisch, Brot und Wein, Gemüse und Obst, und die Glühbirnen brennen bis zum Morgen. Die Bergmannstraße wäre so hell erleuchtet wie die Champs-Elysée oder der Kudamm, wie die Basare im Fernen Osten und die Gassen der Urlaubsinseln am Mittelmeer. Die Geschäfte würden ihre Geschäfte machen, die Restaurants würden kochen, aus ganz Berlin kämen die Menschen, wenn nicht aus ganz Deutschland. Die Bergmannstraße würde mehr Steuern zahlen als alle andern Kreuzberger Straßen zusammen. Sie wäre die einzige Straße, von der die Politiker ruhigen Gewissens behaupten könnten, es gäbe einen spürbaren Aufwärtstrend.

Wenn nur die Sonne mitspielen würde und nicht jedes Jahr wieder dieser lange Winter über uns hereinbräche. Und wenn nur dieses Tiefbauamt nicht wäre, das den Laden- und Restaurantbesitzern ständig die Polizei vorbeischickt. Senay Çelik, die erfolgreiche Managerin des Knofi, sagt: »Die waren eine ständige Bedrohung!« Auch wenn die beiden Beamten, die dann vorbeikamen, immer nett waren und beim Abmessen mit großzügigen Riesenschritten nur auf sechs Meter kamen. Und obwohl die dann noch selbst mitgeholfen haben, die Kisten mit dem Obst, die auf illegalem Boden standen, wieder reinzuräumen.

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Foto: Dieter Peters
»Aber es war eben einfach lästig.« Zumal die Anträge zur Nutzung des rentablen Territoriums jedes Jahr neu gestellt werden mußten. Und zwar gleich zweimal: Für die ersten 100 Zentimeter des Gehweges brauchte man eine Genehmigung der Polizei, und für alles, was weiter als einen Meter von der Hauswand entfernt war, eine vom Tiefbauamt. So zumindest sahen das die Gewerbetreibenden.

Tatsächlich aber war der erste Meter schon seit einiger Zeit genehmigungs- und gebührenfrei. Was die Ladenbesitzer an der Bergmannstraße und in ganz Berlin seit Anbruch des jüngsten Jahrtausends bezahlten, war eine Gebühr für die alljährliche Inspektion durch die Polizei, die zur Aufgabe hatte, den Gehweg auf seine »Passierbarkeit« hin zu überprüfen. Für diesen Service, der jedem Berliner zugute kam, mußten die Gewerbetreibenden zahlen. Aber das wußten die wenigsten. Klar war nur, daß zuerst die Polizei kassieren kam, und später das Tiefbauamt.

Die bürokratischen Hürden haben den einen oder anderen Geschäftsinhaber aus der Bergmannstraße vertrieben. Den Blumenpott zum Beispiel. Nachdem das Tiefbauamt Anzeige erstattete, weil die Blumen desBlumenladens sich etwas zu üppig auf dem Gehsteig ausgebreitet hatten, zog Mathias Pott die Konsequenz: »Ich ziehe woanders hin!« Und auch das Hippopotamus, ein Café mit einem Bereich eigens für den unbändigen Bewegungsdrang der Kinder, – durchaus angebracht im kinderreichen Bezirk – gab schon wenige Wochen nach der Eröffnung wieder auf. Und als die Besitzerin des Bergmann 103 im Keller zusätzlich eine Bar eröffnen wollte, ließ man sie so lange auf die Konzession warten, bis die junge Frau sich auf dem Wirtschaftsamt auf den Fußboden setzte und sagte: »Ich gehe hier nicht eher raus, bis ich die Konzession habe!«

Die anhaltenden Klagen der Berliner Gastronomen über die Schikanen der Behörden sind bis zur Industrie- und Handelskammer (IHK) vorgedrungen. Deshalb startete diese bereits 1998 in der Altstadt von Spandau ein Versuchsprojekt, das vor allem die umständlichen Anträge für das Hinausstellen von Waren vereinfachen sollte. Damals einigte man sich darauf, daß die Belästigungen der Ladenbesitzer durch die Polizei und deren Inspektion der Gehwege nur noch alle drei Jahre vorgenommen werden sollten. Theoretisch gilt diese Regelung inzwischen für ganz Berlin. Faktisch natürlich kann jede um Ordnung besorgte Polizeistreife beim Erspähen einer Blockade durch Kleiderständer oder Tische täglich einschreiten.

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Foto: Dieter Peters
Trotz dieser schmerzlichen Lücke im gutgemeinten Ansatz wurde man auf einem Wirtschaftsausschuß im Kreuzberger Rathaus hellhörig, als ein Mitarbeiter der IHK von dem Projekt in Spandau berichtete, und man beschloß, ein ähnliches Pilotprojekt in Kreuzberg-Friedrichshain zu starten. Erklärtes Ziel war es laut Informationsbroschüre, »bürokratische Hemmnisse für Gewerbetreibende abzubauen«. Ausgewählt wurden vier Geschäftsstraßen: die Frankfurter Allee, die Karl-Marx-Straße, die Warschauer Straße und die Bergmannstraße.

Gemeinsam mit dem Wirtschaftsamt und dem verantwortlichen Bezirksstadtrat Lorenz Postler einigte man sich darauf, daß in den ausgewählten Bereichen für die Dauer eines Jahres das Aufstellen von Fahrradständern ohne Genehmigung und ohne Zahlung einer Gebühr erlaubt sei. Ebenso das Aufstellen von Werbetafeln bis zu einer Größe von einem Quadratmeter. Gastronomische Kleinbetriebe und Imbisse erhielten im Rahmen des Pilotprojektes die Erlaubnis, auch ohne die sonst vorgeschriebenen Toiletten, Waschgelegenheiten und anderen Auflagen bis zu zehn Tische aufzustellen, wofür allerdings ein form- und kostenloser Antrag auszufüllen war. Auch wer seine Pullover, Schuhe oder Möbel auf der Straße zum Verkauf anbieten wollte, erhielt nach Ausfüllen eines vereinfachten Antrages das Recht auf Sondernutzung des Straßenlandes. Und die leidgeprüften Wirte, die bislang für jeden ihrer Tische bei Polizei und Tiefbauamt Anträge einreichen und angeblich bis zu 60 Euro pro Meter zahlen mußten, konnten nach dem Ausfüllen eines einfachen Formulars für die Dauer eines Jahres ihre Tische und Stühle auf die Straße stellen. Die einmalige Gebühr, die sie an das Bezirksamt zu entrichten hatten, machte nur einen Bruchteil des bis dahin vorgeschriebenen »Sondernutzungsentgeltes« aus.

Kaum einer der Wirte ließ sich die Chance entgehen, und innerhalb des Sommers verwandelte die Bergmannstraße ein wenig ihr Gesicht: Den Hotdog brauchte niemand mehr auf dem Barhocker zu kauen, man durfte sich gemütlich auf ein Bänkchen setzen. In den Cafés und Restaurants waren auch an schönen Tagen noch Plätze in der Sonne frei, denn Tische und Stühle in der Straße hatten sich spürbar vermehrt. Manchmal standen sie in Zweierreihen bis auf die Straße. Und vor Knofis Bäckerei und Feinkostgeschäft standen Blumentöpfe, Sessel und ein stabiler Eßtisch mit karierter Tischdecke für jene, die nicht nur einen Happen, sondern zünftig Mittagessen wollten. »Das hätte alles viel früher passieren müssen«, sagt Senay Çelik.

Es hätte nicht nur früher passieren müssen. Auch die Zusammenarbeit zwischen den Initiatoren des Projektes und den Behörden sorgte bei den Gewerbetreibenden in der Bergmannstraße für Verwirrung und Unmut. Auch bei der IHK ist man über die Koordination der Zusammenarbeit enttäuscht. Wie erste Ergebnisse einer Studie der Humboldt-Universität zeigen, wurde die mangelhafte Information sowohl der betreffenden Institutionen und Ämter als auch der Gewerbetreibenden als größter Schwachpunkt kritisiert. Insbesondere das Tiefbauamt zeigte trotz des laufenden Projektes und der vom Senat abgesegneten Sonderregelungen weiterhin intensives Interesse an den Ausbreitungen der Freiluftgastronomie in der Bergmannstraße. Auch die Straßenverkehrsbehörde war offensichtlich nicht im Bilde und schickte weiter verstärkt Patrouillen in die Bergmannstraße. Atnan Aydin, Gastronom und Sprecher der vor drei Jahren gegründeten Kiezgemeinschaft Bergmannstraße, erhielt wegen der doppelten Tischreihe vor dem »Milagro« trotz Sondergenehmigung im Juni noch eine Anzeige.

Streitpunkt sind offensichtlich die vorgeschriebenen zwei freien Meter, die jenen vorbehalten bleiben sollen, die nicht nur in der Bergmannstraße sitzen, sondern auf ihr laufen wollen. Nicht restlos geklärt ist die Frage, ob sich diese zwei Meter am Rand der Straße befinden müssen, oder auch zwischen zwei Tischreihen liegen dürfen. Tatsache ist, daß eine einheitliche Regelung sinnvoll wäre, damit auf der Bergmannstraße kein Slalomparcour entsteht. Doch das war nicht der Fall. Atnan Aydin rätselt schon darüber nach, wen er sich zum Feind gemacht haben könnte, aber Wirtschaftsstadtrat Lorenz Postler winkt ab und erwähnt schwarze Schafe beim Tiefbauamt, die es nicht lassen können, wie gewohnt und übereifrig alten Beschäftigungen nachzugehen.

Es herrschte also einige Konfusion, und auch die BZ trug wenig zur Aufklärung bei, als sie titelte: »Einkaufen rund um die Uhr«. Senatorin Knake-Werner muß die Schlagzeile wie ein Schlag getroffen haben, jedenfalls lehnte sie den vom Bezirksamt und der Handelskammer gestellten Antrag auf Anwendung der Touristenregelung und der damit verbundenen grenzenlosen Ladenöffnungszeiten »rigoros ab«.

Ob das Projekt trotz einiger Kapriolen – aus wirtschaftlicher und städteplanerischer Sicht betrachtet – nun erfolgreich war oder nicht, soll die abschließende Untersuchung durch die Humboldt-Universitätzutage fördern. Davon wiederum soll die mögliche Verlängerung des Pilotprojektes bis zum Oktober 2005 abhängig sein. Die Gewerbetreibenden sind mehrheitlich dafür. Doch beim Bezirksamt zeigt man sich skeptisch. Denn gleichzeitig denkt man längst über eine generelle Neuregelung des umstrittenen Sondernutzungsrechtes nach, die schon Anfang des Jahres in Kraft treten könnte und zumindest eine Vereinfachung der Antragstellung für die Gewerbetreibenden vorsieht. Auch von einer restlosen Streichung des Sondernutzungsentgeltes wird gesprochen. Dann wäre das Pilotprojekt erfolgreich in der Zukunft gelandet.

Wäre da nicht ein Haken bei der Sache! Ein Wermutstropfen, der schon jetzt Protest lautwerden läßt. Denn schon war zu hören, daß bei einem Verzicht auf das Sondernutzungsentgelt mit einer Anhebung der Antragsgebühren zu rechnen sei. Das Defizit muß ausgeglichen werden. »Sie glauben doch nicht, daß ein Bezirk, der in der Pleite steckt, auf eine so lukrative Einnahmequelle verzichtet!«, sagt Karin Vogel von der Kiezgemeinschaft Bergmannstraße.

Zumindest wäre eine Schneise geschlagen in den undurchsichtigen Dschungel deutscher Bürokratie. Doch die könnte ihren Preis haben.

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