Kreuzberger Chronik
März 2004 - Ausgabe 55

Kreuzberger Legenden

Kreuzberger Legenden (2):
Kampf gegen Springer



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von Dr. Seltsam

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Die Ikone der 68er-Rebellion sind die flammenden Zeitungswagen auf dem Parkplatz gegenüber dem Springerverlag. Das Springerhaus am Rande Kreuzbergs selber wurde 1961 als Kalte-Kriegs-Attacke gegen die DDR-Mauer errichtet. Von seinem Dach leuchtete ein Nachrichtenlichterband die Propaganda der »Freien Welt«, so wie sie von dem späterhin paranoid gewordenen Axel »Jesus« Springer interpretiert wurde, in die »Dunkelheit« des Ostens. Die DDR aber war gar nicht so dunkel, blöd und hilflos wie in ihren letzten Jahren, sondern errichtete längs der Leipziger Straße die heute denkmalgeschützten Hochhäuser für Diplomaten und stasigeprüfte Familien, die den Springer-Attacken die Leuchtweite nahmen.

Neben der DDR waren die demonstrierenden Berliner Studenten der Hauptfeind der Springerschreiber, besonders der charismatische Rudi Dutschke aus Luckenwalde. Wahrscheinlich glaubte der verrückte Springer, der »Osten« habe Dutschke geschickt, um die Berliner zur Übernahme sturmreif zu machen. Für ihn waren alle gleichermaßen »Kommunisten«. Es kennzeichnet die geistige Lage »vor 68«, daß die Mehrheit der streng sozialdemokratisch bewegten Berliner der Springer-Propaganda so weit Glauben schenkte, daß sie mehrfach versuchten, Rudi Dutschke oder ihm ähnlich sehende Männer auf offener Straße zu lynchen. Ein junger Neonazi und BILD-Leser erwischte ihn schließlich allein und unbewacht auf dem Kudamm und schoß ihn wie im Wilden Westen umstandslos vom Fahrrad herunter: Freier Westen 1968. Dutschke überlebte knapp, starb jedoch Jahre später an einem epileptischen Anfall, einer Folgeerscheinung der Verletzungen.

Wolf Biermann, der heute widerliche Kommentare in widerlichen Springerblättern schreibt, dichtete damals: »Drei Kugeln auf Rudi Dutschke, wir haben genau gesehen, wer da geschossen hat. Die Kugel Nummer eins kam aus Springers Zeitungswald …«, von der Front in Kreuzberg.

Im Audimax der Technischen Universität beschloß eine Studentenversammlung, daß Springer die alleinige Schuld an dem Attentat trägt und wanderte zum Verlagshaus nach Kreuzberg, um ihren demokratischen Protest friedlich vorzutragen. Es entsprach aber dem Kalkül der politischen Polizei, die studentische Protestbewegung zu radikalisieren, bevor sie andere gesellschaftliche Bereiche »infizierte«. Weshalb der Polizeispitzel Peter Urbach rechtzeitig mit einem Auto voller »Mollies« zur Stelle war und das erste Fanal einer neuen, radikal linken Bewegung stattfinden konnte. Doch zu behaupten, der Verfassungsschutz habe somit die Fäden der linken Bewegung gezogen, wäre übertrieben. Es waren bereits zu viele, die sich über die autoritären Verhältnisse im Nazinachfolgestaat empörten, und alles, was noch fehlte, war der zündende Funke. Und das waren die brennenden Springerwagen.

Der Staatsschutz hatte sich wie so oft verrechnet. Im innersten Kern kapitalistischer Macht, sagte damals ein Insider, herrscht oft große Fähigkeit zur Manipulation bei äußerster Unfähigkeit zur Erkenntnis (A. Sohn-Rethel). Heute ist die BILD nicht mehr als ein legendäres Dada-Blatt. Kein Mensch käme noch auf den Gedanken, ein Zitat aus der BILD als ernsthaftes Argument anzuführen. Der gefürchtete Lügendrache ist zur Wichsvorlage verkommen. Somit ist BILD zwar nicht verschwunden, doch ungefährlich geworden. Würde heutzutage jemand behaupten, die linke, aber eben auch DDR-kritische Studentenbewegung wäre damals von der Stasi unterwandert gewesen, würde er in die Psychiatrie wandern. Oder, wie Hubertus Knabe, zum Leiter des Stasimuseums Hohenschönhausen ernannt – was ja fast dasselbe ist.

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