Kreuzberger Chronik
März 2004 - Ausgabe 55

Der Kommentar

Schulschließung - nur ein Spiel mit Zahlen?


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von Lothar Eberhardt

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»Zu wenig Schüler … Geburtenschwache Jahrgänge … Veränderung des Schulnetzes … Schulentwicklungsplan … Klassenfrequenz … Mindestzügigkeit … Vorgegebene Organisationsrichtlinien … 6. Grundschule kurzfristig aus dem Schulnetz nehmen … Stabile Geburtenzahlen …«

So klingt die Sprache der Bildungstechnokraten und kommt daher wie marschierende Soldaten im Gleichschritt. Doch die Kriterien klingen zuerst einmal »vernünftig«, die Sachzwänge überzeugen. Und führen in der Bezirksverordnetenversammlung am 9. 12. des vergangenen Jahres tatsächlich zum Abwinken und zum Schließungsbeschluß. Die Rosegger-Grundschule wird zum Sommer 2004 aufgelöst. Die Schüler werden an die umliegenden Schulstandorte verteilt.

Kein Aufschrei im Chamisso-Kiez! Schule weg, das geht doch nicht!

Die Zeit des »Weisen Kreises«, die Erkämpfung der Bürgerbeteiligungen und der Betroffenenvertretungen, wirken heute wie die Strategien einer fernen Epoche und wie »geistige Barrikadenkämpfe«, deren Feuer gegen Spekulantentum und für Wohn- und Lebensverbesserungen längst erloschen sind. Warum kein Auflodern »basisdemokratischer Willensbekundung«? Haben die Kiezler ihre »demokratische Unschuld« gegenüber dem »politischen Verwaltungshandeln« verloren?

Vor den Ferien wurden in der Rosegger-Schule noch Möbel zusammengerückt, Sanierungsmittel wurden freigesetzt, und die Schulleitung begab sich auf eine »Ochsentour«, um Schüler zu gewinnen. Tatsächlich stellte die Aufsichtsbehörde der Senatsschulverwaltung in Aussicht, die Schule mit neuem Schulprofil wiederzubeleben. Doch gekommen ist es anders! Die Wände blieben von der Farbe unberührt, stattdessen bekleckerte der Schulfrieden die geplante Aufhebung des Schulstandortes. In einer 11-seitigen Begründung des Schulamtes, ergänzt durch 15 Seiten Zahlenmaterial, wurde ein endgültiger Schlußstrich gezogen. Die Rosegger-Grundschule scheint gescheitert.

Sie sei eben, sagen auch einige Eltern betroffener Schüler, unattraktiv gewesen. Das vielgelobte Konzept der zweisprachigen Alphabetisierung sei schon im Ansatz steckengeblieben. Verantwortlich dafür aber war nicht die Schule allein, sondern eine fehlende Unterstützung seitens des Bezirksschulamtes. Entscheidend für das Scheitern waren die Kürzungen der Mittel, denen auch die Rosegger-Schule nur mit Stundenplankürzungen auf der einen Seite und verlängerter Arbeitszeit der Lehrkräfte auf der anderen begegnen konnte. Es waren strukturelle Mängel, die allmählich zur Abwanderung der Schüler führten. Daß der schlechte Ruf der Rosegger-Schule durch den Kiez hallte, ist das Ergebnis einer »organisierten Planungslosigkeit« in der bezirklichen Bildungspolitik. Dort genau, wo gesellschaftliche Ressourcen hinfließen müßten, werden sie abgegraben.

Die Rosegger-Schule verkam zur Restschule. Einer Schule, in der die »sozial Schwächeren« zurückblieben. Einer Schule für Migranten. Der verhängnisvolle Ausleseprozeß im »Sozialraum« Chamissoplatz wird trotz immer lauter werdender Warnungen der Stadtplaner nicht gestoppt. Im Gegenteil: Er wiederholt sich, wie es durch verschiedenste Untersuchungen immer wieder belegt wird. Vertan ist die Chance, mit dem Instrument der Betroffenenbeteiligung politisch ein- und mitzuwirken. Im Chamissokiez, einem Gebiet mit etwa 10 000 Einwohnern, ist die bildungspolitische Integration als Chance verpaßt worden. <br>

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