Kreuzberger Chronik
März 2004 - Ausgabe 55

Essen, Trinken, Rauchen

Unter Vegetariern


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von Michael Unfried

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Lon Men ist kein langer Mann. Der Mann hinter dem Tresen gleich am Eingang ist eher ein ziemlich kurzer Mann. Ein in seiner asiatischen Bescheidenheit beinahe verschwindend kleiner Mann sogar. Ein Mann, der darauf achten muß, bei der begrüßenden Verbeugung hinter dem etwas zu hoch geratenen Tresen nicht ganz zu verschwinden.

Lon Men ist kein langer Mann, denn Lon Men ist das »Drachentor« und nur der Name eines vegetarischen Speiselokals in der Großbeerenstraße. Eines vielgelobten Lokals, das den Ruf besitzt, mehr als nur Tofu braten oder backen, sondern mit buddhistischer Philosophie kochen zu können.

Der kleine Mann aus dem Lon Men serviert zuerst den Tee. Er bringt ihn mit kleinen Schritten, einer kleinen Verbeugung und einem kleinen Lächeln an den Tisch des Paares, das sich gerade erst gesetzt hat. Etwas merkwürdig, etwas untypisch sieht es aus, das nicht mehr jüngste Paar, sie mit kurzem Rock und einer hochaufragenden Hutkreation über den schwarzen Locken, und er mit Jackett, Krawatte und tatsächlich weißem Hemd. Üblicherweise trägt man hier weite, helle Baumwollhosen, Leinenjäckchen und Reisstrohhüte.

»Wir nehmen das Buffet für 10,90!«, sagt die Dame zum Herrn. Der Herr nickt und schaut aus dem Fenster: Die stille, verregnete Straße, das Kopfsteinpflaster, auf dem sich das gelbliche Licht aus den Fenstern und den alten Laternen spiegelt, die alten Fassaden … – er kommt sich vor wie im Film. »Das muß Wien sein!«, sagt er zu seiner Frau, »fehlt nur noch, daß es schneit und der Hans Moser vorbeikommt!«

»Das würde nicht zum Essen passen!«, sagt die Frau. Sie spricht nicht leise. Das ist sie nicht gewohnt. Alle im Lokal haben zugehört.

»Könntest Du jetzt mal etwas zum Essen holen?«, fragt sie. – »Ich kenne mich nicht aus bei diesen ganzen Tofugeschichten!«, sagt er. »Wenn es hier Leberkäs, Schweinebraten, Würschterl …« – er bricht abrupt ab. Alle Gäste haben herübergesehen, als er die verräterischen Worte aussprach: Leberkäs, Schweinsbraten, Würschterl!

Er stellt sich vor, wie die Blicke der versammelten Vegetarier ihn auf Schritt und Tritt verfolgen werden. Wie sie ihn im Spiegel beobachten, wenn er hilflos vor diesen vielen Tellern mit den unbekannten Speisen und Soßen steht, ahnungslos, um was es sich handelt. Wie sie ihn kopfschüttelnd dabei beobachten, wenn er wahllos etwas von hier und von dort nehmen und auf den Teller häufen wird, als passe das alles so gut zusammen wie die Würstchen zur Linsensuppe.
»Kannst nicht vielleicht doch du gehen? Mein Bein schmerzt!«, sagt er.
Etwa eine halbe Stunde später erhebt sich die einstige Geliebte. Ihr Mann beobachtet, wie die Blicke aller Wollunterhosenträger auf die Nylonstrümpfe seiner Tischgenossin starren, die nun am Buffet steht und die verschiedensten Gemüse übereinanderstapelt, sich aus einem der drei Reistöpfe bedient und ein Dutzend verschiedene Soßen auswählt. Die Dame geht an diesem Abend mehrmals zum Buffet, immer verfolgen sie die neugierigen Blicke der Vegetarier. Ausführlich lobt sie am Tisch die Speisen. Der Mann sagt nicht mehr viel. Er trinkt Bier und kaut Gemüse. Bis gegen halb zehn plötzlich einige junge Leute das Lokal betreten. Sie machen sich sozusagen über die Reste her. Denn ab halb zehn gilt der Discount-Tarif, da kostet das Buffet nicht mehr 10,90 pro Person, sondern nur noch 6,50 Euro.

»Das is ein guter Trick von diesem Lon men!«, sagt der Herr, der inzwischen reichlich betrunken ist. Er sagt es nicht mehr zur Dame, sondern zu den versammelten Vegetariern. »Da brauchen Sie kein Hausschwein! Was sollten diese Vegetarier auch damit anfangen? Oder?«

Unsere Bewertung:
keule
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