Kreuzberger Chronik
Oktober 2003 - Ausgabe 51

Strassen, Häuser, Höfe

Die Ritterstraße


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von Detlef Krenz

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Es ist ein trister Ort, der Moritzplatz. Auf der einen Seite Wohnbauten aus den 50er und 70er Jahren, gegenüber ein unauffälliger Altbau, und an der U-Bahn die Brache des Flohmarktes. Nur das Gebäude mit Aldi und dem Wohnungsamt fällt aus dem Rahmen. Wer der staubigen Fassade einen Blick gönnt, kann den Namenszug »Elsner-Haus« über dem Eingang entdecken.

Zwischen 1912 und 1914 wurde an der Oranienstraße ein Gewerbehof für die Buchdruckerei Elsnerdruck errichtet. Der Hof ist nicht der einzige in dieser Gegend. Einige Straßen weiter, am Erkelenzdamm 59-61, gibt es den »Elisabethhof«, einen der größten Industriehöfe Kreuzbergs, gebaut am Elisabethufer, einer Straße am Luisenstädtischen Kanal, der heute eine Grünanlage ist. Achtzig Jahre lang aber, zwischen 1852 und 1926, floß hier das Wasser von der Spree zum Landwehrkanal. In den Gründerjahren war die Strecke viel befahren, denn Deutschland blühte gerade zur kapitalistischen Großmacht auf, kleine Handwerksbetriebe schwollen zu Industriegiganten an. Berlin wuchs allmählich zur Metrole, die Baumaterialien dazu kamen auf dem Landwehrkanal und wurden am Urban, dem ersten innerstädtischen Hafen Berlins, umgeladen.

Straßen, die noch inmitten grüner Felder endeten, wurden verlängert und erhielten nicht selten einen anderen Namen. So auch die einst unbedeutende Junkerstraße, die 1845 in einen höheren Stand erhoben und zum Ritter geschlagen wurde. Tischlermeister Knickmeyer ließ in dieser Ritterstraße das erste prachtvolle Haus mit zwei Aufgängen, vier Stockwerken, einer Remise für den Wagen und Pferdeställen an der Ecke zur Feldstraße, der späteren Alexandrinenstraße, bauen. Die Werkstatt kam ins Parterre, in die Etagen darüber zogen vermögende Mieter ein. Einige Jahre später richtete sich der Maschinenbaumeister Schneggenburger in der Ritterstraße 37 ein, die er Knickmeyer für ein respektables Sümmchen abkaufte. Adolph von Menzel wohnte wenige Hausnummern weiter. Und da die Leute sehen sollten, was sie kaufen, ließ sich der Fleischermeister Rintisch ein Schaufenster in seinen Laden an der Alexandrinenstraße 30 einbauen, zu einer Zeit, als die Berliner nur auf den Flaniermeilen in der Leipziger Straße und Unter den Linden in Schaufenster gucken konnten. Wegen der günstigen Lage zwischen Anhalter- und Görlitzer Bahnhof siedelten sich immer mehr Firmen in der Ritterstraße und ihrer Umgebung an, der Bedarf an schönen Dingen in den Zeiten des Aufschwungs war riesig.

Kleine und kleinste Firmen lieferten Lampen und Leuchten für jeden Zweck, Elfenbeinschnitzereien brachten zuweilen frivole Figürchen in den Handel, aus einer der vielen Bronzegießereien kamen Elche und Rehe für die Kommode im Wohnzimmer. Auch im Ausland waren die Produkte aus der Ritterstraße gefragt, unentwegt brachten Pferdefuhrwerke die Frachten zu den Bahnhöfen, und bald hatte der Kiez seinen Namen weg: »Rollkutscherviertel«. Im Ausland aber sprach man vom Berliner Exportviertel.

Eilzüge und Ozeanliner verkürzten die Entfernungen in Europa und nach Amerika, die Ritterstraße wurde zur Adresse von 1391 Fabrikanten sowie 1344 Vertretungen ausländischer Firmen. Gleichzeitig wurde der Wohnraum knapp, die Arbeiterfamilien aus den Textil,- Metall- und Papierwarenfabriken rückten immer dichter zusammen, oft lebten mehrere Generationen in einem einzigen Zimmer. Ein neuer Gebäudetyp, der Gewerbehof, entstand und verdrängte die alten Wohnhäuser.

Diese Mietfabriken boten alles, was sich ein Fabrikant nur wünschen konnte: Helle Produktionsräume mit großen Fenstern, gesonderte Büroflächen, eine repräsentative Fassade zur Straße, anspruchsvolle Wohnungen im Vorderhaus sowie ausreichend Elektrizität für Maschinen und Fahrstühle. Die Rohrpost verband die einzelnen Etagen der Produktionsstätten, während neue Telephon- und Telegraphenleitungen den Kontakt der Büros mit der Außenwelt herstellten.

Im Zentrum des berühmten Exportviertels lag noch immer die Ritterstraße 37 des Maschinenbaumeisters Schneggenburger. Jetzt handelte der Kaufmann Richard Weckmann von hier aus mit »Hansa-Tinte, Schreibfedern und Papieren« und richtete im ersten Haus der Straße ein Musterlager ein. 1911 verfügte das »Hansa-Eck« über die Telegrammadresse »Avanti.Berlin« und war über drei verschiedene Telefonnummern zu erreichen. Vom Nachbargrundstück, der Nr. 36, funkte eine private Sendestation in die Welt hinaus, und im Studio der Deutschen Grammophongesellschaft, das sich in der Nr. 35 befand, wurden die neuesten Schlager aufgenommen und anschließend auch gleich auf Schellack gepreßt, selbst die Produktion der Plattenspieler fand im eigenen Haus statt.

Schon der Erste Weltkrieg brachte das legendäre Exportviertel an den Rand des Abgrundes. Zwar belebte der Devisenmangel der Nachkriegszeit den Export, und Mitte der Goldenen Zwanziger lebte das Viertel noch einmal auf, doch auf den Glanz der Produkte aus der Ritterstraße hatte sich Kriegsstaub gelegt. Richard Weckmann bot nun merkwürdig hohe, kelchförmige Blumenvasen an – ursprünglich enthielten diese Vasen Sprengstoff. Andere Händler verlegten sich auf Billigartikel, denn die ausländische Konkurrenz war groß. 1928 eröffnete das Billigkaufhaus Woolworth seine dritte Filiale in der Badstraße, 1929 stürzte die Weltwirtschaft in die Krise, die Firmen der Ritterstraße gingen reihenweise in die Pleite. Endgültig beendeten dann die Nazis die glorreiche Geschichte des Exportviertels, zwangen die restlichen verbliebenen jüdischen Geschäftsleute zum Verkauf des Besitzes oder enteigneten sie, trieben Geschäftsgründer in die Flucht und die Konzentrationslager. Wenig später dienten die Firmen der Ritterstraße nur noch als Zulieferer für die Wehrindustrie – eine Zukunftsbranche, denn für die üblichen Konsumgüter gab es keinen Absatz mehr. Dennoch betrug der Umsatz der Ritterstraße im Jahr 1936 noch 100 Mio. RM. Arbeitskräfte holte man sich vom Arbeitsamt, das unbürokratisch Russen zur Verfügung stellte, die auf Dachböden, in Verschlägen oder einem großen Lager im heutigen Böcklerpark untergebracht wurden. Dann kam der Untergang.

Die Ritterstraße war vom Krieg weitgehend zerstört. Dennoch versuchten einige Firmen in den 50er Jahren, zurückzukehren, aber die Stadtplaner hatten Wohnungen und eine Stadtautobahn geplant. Der Mauerbau verhinderte die Stadtautobahn, dafür wurde die »Spring« – wie die Otto-Suhr-Siedlung zu beiden Seiten der Ritterstraße hieß – realisiert. Aus dem Haus mit der Nummer 37 wurde eine Wiese mit Bänken, neben denen heute leere Bierpullen liegen. Nur noch der Ritterhof und das Pelikanhaus zeugen vom alten Glanz der Straße. Und manchmal findet man auf dem Flohmarkt am Moritzplatz noch einen alten Aschenbecher aus Bronze oder eine merkwürdig schwere Vase. <br>

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