Kreuzberger Chronik
Oktober 2003 - Ausgabe 51

Diddi und Siggi Kreuzberger
Diddi & Siggi

»Schöne Tunten will doch heute keiner mehr sehen«


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von Hans W. Korfmann

Titelfoto: Michael Hughes

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Als sich der feine Herr mit dem etwas unbeholfen aufgepuderten Mädchen an seiner Seite im 16. Stock des Merkurhotels in Leipzig beim Kellner lautstark über den Cocktail beschwerte, platzte Diddi die Hutschnur. Diddi nämlich versteht etwas von Kellnern und von Cocktails, Diddi steht fast ein Vierteljahrhundert hinter dem Tresen. Und von Frauen versteht er auch was. Auch wenn ihn die nie wirklich interessiert haben. Er hat auch einen geübten Blick für feine Herren. Und die gutbetuchten Fernsehleute und Journalisten, die gerade vom 16. Stock eines Nobelhotels aus die Montagsdemonstrationen kommentierten und ihre Drinks und ihre Mädchen mit barer Westmark bezahlten, als wäre die Mauer schon gefallen, diese Herren waren keine feine Herren. Also sagte er:
»Der Kellner kann doch nichts dafür, wenn ihr Mädchen nichts von Cocktails versteht!«, sagte Diddi und zwinkerte ein bißchen dabei. Diddi muß in diesem Moment so ausgesehen haben wie Charles Chaplin, dieser kleine Mann, der sich immer dann empörte und einmischte, wenn irgendwo Unrecht geschah, wenn irgendwo ein schwaches, meist weibliches Wesen Hilfe brauchte. Denn Diddi hat das schmale Gesicht Chaplins, diese immer freundlichen Augen, sogar dann, wenn er wütendsten und wüstesten Feinden gegenübersteht. Im Film wäre es jetzt zu einer Schlägerei gekommen, und Chaplin hätte vermutlich gewonnen. Aber das war kein Film aus Hollywood, das war die deutsche Wirklichkeit, und Diddi sagte: »Komm, Siggi, wir gehen! Das ist hier eh alles schon in westlicher Hand!«

Diddi und Siggi damals
Nicht Rudi Völler und Paul Breitner, sondern Diddi und Siggi in jungen Jahren. Foto: Privat


Eigentlich hätten sie auch gar nicht hier sein dürfen, die beiden Gestalten in ihren Parkas. »Wo wollen Sie denn hin?«, hatte der Portier gefragt und sich Diddi und Siggi in den Weg gestellt. Aber Diddi und Siggi, die mit den Ossis auf der Straße, in der Kneipe und in der Kirche gewesen waren, und die dann da oben diese Festbeleuchtung sahen, wollten wissen, wer da eigentlich etwas zu feiern hat. Nirgends in der Stadt war es so hell wie dort oben. Und Diddi ist eben nicht auf den Mund gefallen: »Entschuldigen Sie unseren Aufzug«, sagte er zum Leipziger Portier, »aber wir kommen von der Basis. Wir sind eigentlich vom ZDF, und wir müssen da hoch, das soll morgen gesendet werden!« Der Portier entschuldigte sich und begleitete die beiden zum Fahrstuhl.

Auch in Prag sind sie damals gewesen, vor der deutschen Botschaft, wollten mit eigenen Augen sehen, wie sich für die Menschen aus dem Osten die Tür in den Westen öffnete. »Da wurde ein Stück deutscher Geschichte geschrieben, und wir hatten die Chance, live dabeizusein. Wann hat man das schon?« Reisefreudig sind die beiden schließlich schon immer gewesen. Einmal haben sie ihre ganze Kneipe mitgenommen, die ganze Belegschaft. »59 Mann und ein Kind!« Eineinhalb Jahre lang haben sie gespart, sie und die Stammgäste aus der Sonne, dieser unauffälligen Eckkneipe aus den dunklen Fünfzigern mit ihren vergilbten Vorhängen, durch die kein Fremder einen Blick wirft. Mit dem Allesbrenner in der Ecke und dem dicken Ofenrohr, mit dem ganzen Trödel an der dunklen Holzvertäfelung, die auch das letzte Licht noch schluckt. So sieht sie aus, die Sonne von Diddi und Siggi. Und dann sind sie losgeflogen, im Sommer 1989, für vier Wochen nach Amerika, und der Bezirksbürgermeister gab der Kreuzberger Delegation Geschenke und Souvenirs für die amerikanischen Brüder mit. »Die freuen sich doch über jeden Bierdeckel!« Nach vier Wochen in Hotels mit Bidet und komfortablen Mietwagen kehrte die Belegschaft der Sonne nach Berlin zurück, im Gepäck eine gravierte Urkunde: »Unseren Freunden aus Berlin zum Andenken an die Stunden im Deutsch-Amerikanischen Club of Central Florida Orlando« – König, der Bürgermeister, sagte: »Ihr habt mehr für Kreuzberg getan als das ganze Bezirksamt!«

Diddi und Siggi haben immer schon ihre Verbindungen gehabt zur Politik. Die Kreuzberger SPD trifft sich seit zwanzig Jahren im Hinterzimmer der dunklen Sonne, wo Diddi seine gigantische Sparschweinsammlung untergebracht hat. »Früher waren das vierzig Leute. Jetzt sinds noch sechse!« Diddi kichert und holt die Flasche Obstler aus dem Regal. Manchmal kommen ja alte Bekannte, um zu sehen, ob’s die Sonne und Diddi und Siggi mit den Sparschweinen noch gibt. Walter Momper oder Strieder mit seinen drei Bodyguards zum Beispiel. »Mann, Peter, was soll denn das, du weißt doch, wo du hier hinkommst!«, sagte Diddi und legte ihm die Hand auf die Schulter. Aber die drei finsteren Gestalten wichen nicht von seiner Seite. Da muß Diddi einen beleidigten Mund gezogen haben – etwa so wie Chaplin, wenn man ihm den langersehnten Teller Essen vor der Nase wegzieht: Nicht wirklich beleidigt. Resignieren, trauern, das steht den beiden nicht, Diddi und Chaplin.

Manchmal kommen auch Leute vom Film, drehen in der Kneipe oder bestellen etwas zu Essen in der Sonne. Als Harald Juhnke hereinkam, sagte Diddi: »Mann, Harald, was darfs denn sein? Ein Doppelter Whisky?« – »Für mich nur ne’ Apfelschorle!«, sagte Harald. – »Ach, da ham wa ma den Juhnke im Haus, und dann isser trocken!«, meinte Diddi und war ernsthaft betrübt. Auch Juhnke war nicht gut drauf an dem Tag, sie drehten die Szene hundertmal. Und dann, als sie endlich fertig sind und aus dem Hinterzimmer kommen, »da springt plötzlich unser Manne aus der Ecke auf: He, Harald, wie geht’s denn so?« Harald war pikiert: »Ich wüßte nicht, daß wir uns kennen!« – »Na klar, aus’m Entzug, weeste nich mehr!« Diddi schlägt sich vor Freude auf die Schenkel.
Im Umkleideraum der Sonne
Foto: Michael Hughes
Nein, Diddi ist lustig, Diddi ist kein melancholischer Typ, Diddi lacht gern. Und erzählt gern. Diese ganzen Geschichten, diese alten Geschichten aus der Sonne, um die sich alles dreht. »Wie im Himmel so auf Erden.« Aber viel Neues gibt es nicht im Moment, die Gäste sind immer die Gleichen. Wenn einmal neue kommen, dann meistens von drüben, aus dem Altersheim. So wie dieser alte Preuße mit seiner Zigarre, der eines Tages auftauchte und dann jeden Abend in der Sonne verbrachte. Und der so heftig an die Tür pochte, als bei Diddi und Siggi eines Tages wiedermal geschlossene Gesellschaft war. Bis Diddi endlich zur Tür ging, in diesem roten, langen Abendkleid und mit der Perücke auf dem Kopf, und dem Preußen ganz entschieden sagte, daß heute geschlossen sei. Am nächsten Abend kam der Alte wieder und beschwerte sich, da sei so eine alte Hure gewesen, die ihn nicht hereingelassen hätte. Als Siggi dem alten Haudegen eines Abends keinen Schnaps mehr gab, ging er zum Imbiß nebenan, steckte sich eine Zigarre an und fiel vornüber. Und stand nie mehr auf. So wird es langsam ruhiger bei Diddi und Siggi.

Es sei denn, sie feiern ihre Feste. Dann ist die Sonne voll wie damals, als sie noch unten das »Chamisso-Eck« hatten, und als der FC-Chamisso sich ausgerechnet bei Diddi und Siggi traf. Horden trinkender Fußballer füllten das Lokal, und dazu die SPD im Hinterzimmer. Die beiden Wirte fühlten sich wohl in der Männergesellschaft, und die Kreuzberger Hobbyfußballer der Achtzigerjahre machten auch keine dummen Witze über das männliche Pärchen. Im Gegenteil: Als Siggi eines Tages vor versammelter Runde das Mikrophon nahm und das Lied von Heidi anstimmte, kamen die Männer erst so richtig in Stimmung. Zum Fasching stand dann der erste Fußballer im Dirndl neben Diddi und Siggi in ihrer Abendgarderobe. Das war die Geburtsstunde der »Sunnyboys«, und jedes Jahr zu Fasching tauschten mehr Mitglieder des FC-Chamisso ihre Fußballhosen gegen Rüschenröcke und die Stollenschuhe gegen Stöckelschuhe. »Die Frauen im Publikum hat das ganz verrückt gemacht, so richtige Kerls in Fummeln!«, sagt Diddi, vielleicht ein winziges bißchen neidisch.

Aber inzwischen sind die ledigen Kerls von damals alle Väter und Großväter. »Hier!«, sagt Diddi und deutet auf eine Fotografie an der Wand, das eine umfangreiche Dame mit aufgetürmtem Haar und riesigen Wimpern zeigt, »die ist schon zweifacher Großvater, und die da im Minirock auch.« Aber lustig sind sie noch immer, und auch in diesem Jahr werden sich die Fußballer wieder in die kleine Kammer neben der Küche zurückziehen, wo der Fundus der Sonne mit den Perücken, Kleidern, Federboas, Nylons und Schuhen versteckt ist. Sie werden sich auf den Hocker vor den Spiegel setzen, ein Gläschen Sekt trinken und sich in die »Blumen der Nacht« verwandeln, werden unter den Sternen und dem Mond, die von der Decke der Sonne baumeln, vor ausverkauftem Haus ihre Liedchen singen. »Schöne Tunten will doch heute keiner mehr sehen!« Aber wenn der FC-Chamisso mit den »Sunnyboys« auftritt, dann ist das Lokal ausverkauft.

Die Wand der Stars
Die Wand der Stars in der »Sonne« Foto: Michael Hughes

Und dann ist es fast so schön wie an diesem Tag im November 1978. Da sah Diddi eines Abends seinen Schlagersiggi auf der Bühne. Diesen Siggi, den man schon mit Michael Schanze, Jürgen Markus, Dieter Thomas Heck und Peter Orloff fotografiert hatte. Diesen netten jungen Sänger, der auf der Funkausstellung den »Berlinpreis« gewonnen hatte und auf der Titelseite der BZ gewesen war. Diesen Siggi, der gerade ein Star werden sollte. Diddi ging, mutig wie Chaplin, nach dem Auftritt hinter die Bühne und machte seine Aufwartung. Seit diesem Abend sind Diddi und Siggi ein Paar. »Wir haben uns keinen Tag mehr aus den Augen gelassen!« Sagt Diddi, und lächelt so ungetrübt glücklich wie Chaplin, als er endlich das blinde Blumenmädchen wiedersieht.

Im November werden Diddi und Siggi Silberne Hochzeit feiern. Und ein paar Tage später Diddis 65. Geburtstag. Diesen Tag, zu dem ihm sein Vater niemals gratulierte. »Er erinnerte sich immer erst später daran. Ach ja, du hattest ja Geburtstag!«, und dann überreichte er dem Sohn ein Geschenk. Denn als Diddi geboren wurde, starb die Mutter. »Im Gertraudenkrankenhaus, am Blinddarm, im Wochenbett, Zimmer 223. Das weiß ich noch genau! Ich kenn nur ihr Grab. Aber mein Vater muß sie sehr geliebt haben!«, sagt Diddi, und jetzt sieht er plötzlich doch so aus wie dieser traurige Komiker Chaplin, der im Rinnstein sitzt und ein Kind sieht, das ganz allein auf der Straße steht.

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