Kreuzberger Chronik
Juni 2003 - Ausgabe 48

Tobias Schollak Kreuzberger
Tobias Schollak, Eisverkäufer

»Es gibt nichts, was es nicht gibt.«


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von Ina Winkler

Titelfoto: Michael Hughes

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Man kennt ihn. Diesen jungen Mann mit dem freundlichen Gesicht, der jeden Nachmittag pünktlich um vier von der
Katzbachstraße den Berg hinauf kommt, vor sich dieses rikschaähnliche Vehikel mit dem bunten Dach, 220 Kilogramm schwer und voller Verführungen. Sie kennen ihn inzwischen alle: die alten Kreuzberger, die auf ihren Stammbänken in der Sonne sitzen, die Freizeitparkler von der unteren Wiese, die ihre Decken ausgebreitet haben, grillen, Bälle durch die Lüfte schießen oder werfen, Drachen steigen lassen, und auch die Trommler, Gitarrenspieler und Sonnenanbeter von der oberen Wiese unter dem Denkmal. Am besten aber kennen ihn die Kinder. Sie scheinen schon seit Stunden im Gebüsch zu lauern, hinter Bäumen ungeduldig nach ihm Ausschau zu halten, und kaum taucht er mit seinem Wagen im Viktoriapark auf, laufen sie alle zusammen, hängen sich an seine Fersen und begleiten den Ersehnten den Berg hinauf: den Eismann.


Eisverkauf

Als Tobias Schollak vor zwei Jahren den Eiswagen kaufte, hatte man ihn gewarnt: »Paß auf, nach zwei Wochen bist Du nur noch der Eismann.« Trotzdem kaufte er dem Nürnberger das original italienische Vehikel auf der Stelle ab. Obwohl er nicht einmal die Konzession für den Eisverkauf in der Tasche hatte, und obwohl Konzessionen für fahrende Händler im Viktoriapark bis dahin ein absolutes Tabu waren. Aber Tobias Schollak probierte es trotzdem, machte sich auf den Weg zum Grünflächenamt und klopfte unangemeldet an die Tür des Chefs, eines gewissen Herrn Schädel. Tobias Schollak ist ein freundlicher Eisverkäufer, sogar der kühle Bürokrat mit dem prosaischen Namen schmolz bei seinem Charme dahin. Da könne man schon drüber reden. Hinzu kam, daß der Baustadtrat Schulz ohnehin die Villa Kreuzberg an ein gastronomisches Unternehmen vermieten wollte, der Senat brauchte Geld. Also stand der Standort Viktoriapark für Gewerbetreibende ohnehin zur Debatte. Und dann ging die Geschichte ihren bürokratisch umständlichen Weg.

In einem sogenannten »Interessenbekundungsverfahren« bewarben sich Kreuzberger Kleinunternehmer mit den üblichen Ideen von florierenden Wurst- und Getränkeständen, boten und überboten sich -- doch den Zuschlag erhielt der Mann mit dem Eisfahrrad, der weder Flaschen noch Dosen, weder Pappbecher noch Plastiklöffel, sondern nur seine umweltfreundlichen Eiswaffeln hinterlassen würde, und auch das nur in dem traurigen Fall, daß dem Eisesser das Eis aus der Hand rutscht.

So kam es, daß Tobias Schollak am 18. Mai 2002 seinen Wagen in den Park rollen durfte. Bis er das umständliche Gerät endlich aufgestellt und soweit gebracht hatte, daß er tatsächlich Eiskugeln aus den Fächern in die Tüten füllen konnte, war die Sonne bereits wieder untergegangen. Bis 22 Uhr stand er unter dem Denkmal, verkaufte gerade mal 20 Kugeln, beobachtet von den argwöhnischen Blicken der alteingesessenen Kreuzberger, deren Blicke unschwer zu interpretieren waren: »Was ist denn das wieder für ein Spinner?

Damit kann man doch kein Geld verdienen!« -- Wahrscheinlich glaubte kaum einer daran, daß man diesen Clown mit seinem komischen Wagen noch lange hier sehen würde. Erst, als man an heißen Sonntagen die langen Schlangen sah, die sich vor dem Erfrischungsanbieter bildeten, und als sie den kleinen, dicken Stammkunden mit einer Riesenwaffel von 10 Kugeln den Weg entlangspazieren sahen, kamen die Sonnenanbeter der oberen Wiese ins Grübeln.

Eisverkauf
Die Kinder jedenfalls warten nachmittags um vier schon sehnsüchtig auf ihn, die Mütter ziehen bei seinem Erscheinen automatisch die Geldbörse aus der Tasche. Der Eisverkäufer hat seine Stammkunden, die kommen jeden Tag. Die alte Dame aus der Monumentenstraße, die ihre tägliche Kugel Walnuß bei ihm kauft, der ständig zerschürfte Matthias mit seiner Vorliebe für Zitroneneis, das Mädchen, das immer nur Schlumpfeis möchte. Alle haben ihre Vorlieben, beim Eis sind alle wählerisch, die Großen und die Kleinen. Aber die Kleinen lieben es am meisten. Sie kratzen ihre letzten Cent in den Hosentaschen zusammen. »Kann ich ein Eis haben, nur ein kleines?« Dann zeigen sie die 40 Cent in ihrer Hand. »Vor allem bei den türkischen und arabischen Kindern geht es nie ohne Handeln ab!« Dann sucht der Eishändler vom Viktoriapark nach einer beschädigten Waffel, und meistens findet er auch eine. Das ist ein Kompromiß, »ich kann nicht den einen die Waffel für 55 Cent und den anderen für 40 Cent verkaufen.« Das wäre nicht gerecht, und das möchte er sein, der ehemalige Jurastudent, der jetzt »der Eismann« ist. Obwohl Tobias Schollak nie eine besondere Vorliebe für Eis besaß, nicht einmal als Kind. Nein, wenn es überhaupt etwas gibt, das ihn mit dieser sommerlichen Erfrischung verbindet, dann ist es der kühle Kopf. Wenn er am Abend nach Hause geht, mit der Aktentasche voller Unterlagen unter dem Arm, in seinem schwarzen Hemd und der schwarzen Hose, mit der er auch im Park steht, dann erinnert er doch eher an die Generation der New Economy als an die traditionell hell gekleideten Eismänner mit ihren gestreiften Schürzen. Und der Eindruck täuscht nicht. Tobias Schollak ist ein kühler Rechner. Auch wenn er sagt: »Es gibt nichts, was es nicht gibt.«

Schon damals, als sich der Sohn des wenig bequemen Schriftstellers Sigmar Schollak, der 1982 mit seiner Familie aus dem Osten in den Westen entlassen wurde, entschied, eine Lehre als Bankkaufmann zu beginnen, dachte er an ein Jurastudium. »Ich wollte auf juristischem wie auch auf geschäftlichem Gebiet firm sein.« Das war eine kühle Überlegung. Denn für ihn war klar, daß er selbständig arbeiten wollte. Er vertrug keinen Chef, er wollte Ideen umsetzen. Damit begann er bereits 1996. Der Eismann kam gerade von einem zweijährigen Studium des französischen Rechts aus Frankreich zurück. Der frankophile Student quartierte sich im Prenzlauer Berg ein und fehlte auf keiner der deutsch-französischen Veranstaltungen im Grünen Salon der Volksbühne. Schon wenig später veranstaltete seine spontan aus der Taufe gehobene Agentur »Berlin-Paris-Concept« ein berlinweites, zehntägiges deutsch-französisches Festival mit Konzerten, Theater- und Filmvorführungen. Der Mann mit dem eisschmelzenden Lächeln gewann Sponsoren wie die Air France, Arcor oder die französischen Wasserverkäufer Evian.

Als man 1998 auf die Idee kam, das zehnjährige Jubiläum des Mauerfalls zu feiern, dachte man im Kanzleramt über eine deutsch-französische Koproduktion nach -- damit das Fest keinen nationalen, sondern eher einen europäischen Charakter bekäme. Und Schröders Frau für deutsch-französische Zusammenarbeit, Brigitte Sauzay, rief ihren Bekannten Tobias Schollak an. Der Eisverkäufer sollte zum Veranstalter des großen Jubiläums werden.

Monatelang liefen die Vorbereitungen, bis der Bürgermeister Eberhard Diepgen dann doch Einspruch erhob: Über Veranstaltungen am Brandenburger Tor entscheide nicht das Kanzleramt, sondern der Bürgermeister. Und der Bürgermeister hatte einen guten Freund in einer großen Veranstaltungsagentur, der größten in Deutschland. »Aber ich war deshalb nicht böse. Konkurrenz gehört eben zum Geschäft.« Sagt der Eismann, aber die Veranstaltungsagentur hängte er erst einmal an den Nagel und kaufte sich eine Eigentumswohnung in der Möckernstraße. »Was ja schon irgendwie ungewöhnlich ist für einen gerade mal Achtundzwanzigjährigen. Aber die Zinsen waren so günstig, und ich hatte gerade ein bißchen Geld übrig.« Und schließlich hat der Sohn des Schriftstellers nicht umsonst Bankkaufmann gelernt. Er weiß, worauf es ankommt. Einen Kredit bei einer Bank würde er niemals aufnehmen. »Im Prenzlberg habe ich viele aus der New-Economy-Branche kennengelernt, die haben sich Lofts gemietet und Büros eingerichtet und sind groß eingestiegen. Die meisten sind heute pleite.

Schollak und Partnerin
Nein, der Eisverkäufer macht das anders. Er fängt klein an, mit einem Fahrrad, über das alle lachen. Dann mietet er sich einen Lagerraum gegenüber des Parks in der Katzbachstraße. Inzwischen ist ein kleines Café daraus geworden, das Café Orange. Und dann ist da schon wieder so eine Idee, eine gute Idee. Wenn auch das klappen sollte, dann wird aus dem fahrenden Eishändler am Kreuzberg bald noch ein richtiger Gastronom geworden sein. An dem auch die Sonnenanbeter auf ihrer Suche nach Bier und Wein auf Berlins höchster natürlicher Erhebung nicht mehr vorbeikommen.

Nichts ist unmöglich, singen die Autoverkäufer. »Es gibt nichts, was es nicht gibt!«, sagt der Eisverkäufer. Und: »Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg!« Aber der Eisverkäufer ist kein Mann mit romantischen Ideen -- auch wenn sein Eisfahrrad diesen nostalgischen Touch hat. Das Kühlsystem hinter der Verkleidung ist ein kompliziertes Konstrukt italienischer Technik. Und wer den Eismann am Abend müde mit der schwarzen Aktentasche unter dem Arm nach Hause gehen sieht, ahnt, daß auch das Eisverkaufen kein reines Vergnügen ist. Doch auch das hatte der Kleinunternehmer einkalkuliert. Wer einmal nachrechnet, wieviel so ein Eisverkäufer an einem sonnigen Sonntag verkauft, kommt ins Staunen. Die Sache rechnet sich.

Aber natürlich steckt auch hinter jedem erfolgreichen Eisverkäufer eine erfolgreiche Frau, und auch wenn Sarit Roberts nicht seine Angetraute ist: Ohne die junge Frau im Hintergrund hätte er die Idee zum Eisverkaufen wohl nicht in die Tat umgesetzt. Sie ist nicht oft zu sehen auf dem Kreuzberg, ihr Kind ist noch klein, und dann macht sie ja gerade ihr Examen. Sie steht oft im Café Orange, dem bislang einzigen Farbtupfer in der ansonsten hoffnungslos grauen Katzbachstraße. In der ein Laden neben dem anderen schließt. Sarit Roberts und Tobias Schollak haben einen eröffnet. Es wird, aller Voraussicht nach, nicht ihr letzter gewesen sein.

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