Kreuzberger Chronik
Juli / August 2003 - Ausgabe 49

Essen, Trinken, Rauchen

Die Kantine im Zollamt


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von Michael Unfried

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Es nennt sich noch immer »Kasino im Columbia-Haus«. Auch wenn das Columbia-Haus böse Erinnerungen an die Nazizeit weckt. Aber von den Offizieren ist niemand mehr anwesend. Es sind vor allem die Beamten des Berliner Hauptzollamtes, die zu Mittag am Platz der Luftbrücke Nr. 1 zum Essen kommen. Aus dem Kasino in Hitlers gigantomanischem Bauwerk am Flughafen ist eine Kantine geworden, in der sich nur noch einige wenige einfinden.

Obwohl so viel Platz wäre in dieser gewaltigen Halle. Kaum hat man den Pförtner hinter seiner Glasscheibe mit den Konterfeis dreier bärtiger Terroristen auf dem Steckbrief passiert, ist man allein auf der breiten Treppe, auf der man auch zu zehnt noch bequem nebeneinander in den ersten Stock steigen könnte. Man öffnet die Flügeltür, an der wieder drei bärtige Gesichter hängen, und steht plötzlich in dieser langen, zehn Meter hohen Halle, die von oben bis unten mit Fenstern ausgestattet und taghell ist – falls der Tag draußen hell ist. Doch an den fünfzehn langen Tischreihen mit jeweils 16 Stühlen sitzen nicht mehr als zehn Esser. Und das bei solchen Angeboten:
Berliner Kartoffelsuppe mit Würstchen (1,90), Frischer Braten vom Grill (2,50), Jägerschnitzel vom Schwein mit Champignons und Salat und Dessert (3,50). An keinem Tag der Fünftagewoche kostet die Mahlzeit weniger als 1,90 oder mehr als 3,50. Das ist human, und das hat sich bis zu einigen Lebenskünstlern in der Gegend herumgesprochen. Aber auch Arbeiter in verklecksten Blaumännern mischen sich mehr oder weniger unauffällig unter die acht Bürokraten mit den goldfarbenen Brillengestellen. Die Insider vom Zoll sitzen in zwei Zweier- und einer Dreiergruppe am Tisch, ein einziger Einzelgänger mit Krawatte und weißem Hemd und einem dünnen Stapel Akten befindet sich am Ende des Saales. Er macht den Eindruck, als säße er schon seit vielen Jahren allein an diesem Tisch. Er hat sich für die Würstchen in der Kartoffelsuppe entschieden.

»Na, dann woll’n wir mal wieder!« – Die Dreiergruppe seufzt und erhebt ihre buckligen Rücken. In diesem Moment betritt eine junge, rothaarige Frau die Kantine des Zollamtes. Die drei älteren Herren sehen kurz zu ihr hinüber. Die Zeiten, als sich in der Kantine noch alle grüßten, sind Vergangenheit. Die Frau mit den roten Haaren geht, den Blick auf den Linoleumboden geheftet, an den langen Tischreihen vorüber, während sich die Männer wieder über ihre Teller beugen und kauen.

Man hört, wie die Neue vertrauliche Worte mit der Frau von der Essensausgabe wechselt. Als sie zurückkommt, zeigen die Esser schon etwas mehr Interesse für die Rothaarige als bei ihrem Einmarsch. Sie beäugen ihr Tablett und stellen fest: Hirschrahmgulasch für 3,50 Euro, geraspelte Möhren und Gurken. Und eine Limonade.

Über zwei kleine Lautsprecher singt Frank Zappa gerade vom »American dream« und »Bobby Brown«. Die Neue betrachtet betrübt zuerst ihren Hirsch und dann den Ficus am Fenster. Der fühlt sich wohl hier, drei Meter ist er hoch. Sie dagegen hat das Gefühl, immer kleiner zu werden unter diesen ganzen Brillenträgern. Es war offensichtlich ein Fehler, daß sie sich beim Zoll beworben hat. Sie paßt nicht hierher mit ihren roten Haaren. Ungeachtet dessen dudelt dieser Berliner Sender unverdrossen die McDonalds-Hymne: »Every time ’s a good time«.

Als die Küchenhilfe den Geschirrwagen mit drei leeren Tellern lautlos über das Linoleum schob, faßt sie sich ein Herz. »Sagen Sie, kann man diese blöde Musik vielleicht leiser drehen!«
»Aber das ist doch schon ganz leise. Leiser geht’s nicht! In diesem Raum hört man einfach alles!«
Die Rothaarige hob resigniert die Schultern, gabelte noch ein wenig in dem Hirschen herum, und verließ den Raum, während ihr das Radio noch hinterherspielte: »The winner takes it all!« <br>

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