Kreuzberger Chronik
März 2002 - Ausgabe 35

Herr D.

Herr D. und die Post


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von Hans W. Korfmann

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Herr D. war froh, in Kreuzberg zu wohnen. Die Leute waren freundlich, und es war keine Ausnahme, wenn man jemanden nach dem Weg fragte und eine Antwort erhielt. Unvergeßlich war D. dagegen der Dialog, den er in einer seiner ersten Berliner Nächte in einem ihm völlig fremden, finsteren Teil der Stadt mit dem Fahrer eines Busses führen durfte. »Sie fahren nicht zum Mehringdamm?« – Der Mann sah aus dem Seitenfenster. »Nein!« D. weiter: »Und wie komme ich jetzt nach Hause?« – »Mit dem N6er!« – »Was ist denn der N6er?« – »Der Nachtbus!« – D. schöpfte Hoffnung. Es war doch nicht das Ende der Welt, es war nur Marzahn. – »Und wo fährt der?« – »Da vorne!«, sagte der Busfahrer, starrte aus der riesigen Frontscheibe und hob den Kopf für etwa 2 Sekunden um etwa zwei Zentimeter, um mit der Nasenspitze die Richtung anzudeuten. Herr D. verstand, daß das Gespräch an dieser Stelle beendet war. Er blickte in die Dunkelheit, doch er konnte nichts erkennen, das einer Bushaltestelle ähnlich gewesen wäre. Dennoch dankte er dem Mann freundlich, tauchte in die Dunkelheit und suchte den Nachtbus. Es war ein glücklicher Zufall, daß nach einer halben Stunde ein Taxi vorbeikam.

Aber mit dem Postboten hatte D. Glück. Jeden Samstagmorgen zwischen zehn und elf klingelte es. Herr D. hob den Hörer ab und vernahm immer die gleichen Worte: »Jaaa, die Post!« Der Berliner Postbote sagte das nicht nur, er sang es geradezu in die Sprechanlage, so wie die nette Christel von der Post: »Jaaa, die Post!« In der Tonfolge von diesem Lied von den alten Rittersleut. »Jaaa so worns, …. jaaa die Post.« Jeden Samstag zwischen zehn und elf.

Ein Jahr lang lächelte D., wenn es klingelte, und öffnete dem freundlichen, kleinen, wahrscheinlich etwas dicklichen Boten der Briefe die Haustür. Ein Jahr lang. Nicht länger währte das Glück. Denn eines morgens fand D. eine an Ihn adressierte Buchsendung im Papierkorb, der für die Werbesendungen gedacht war. »Warten Sie, ich komme runter!«, rief D. am nächsten Samstagmorgen in den Telefonhörer. »Ich bin gleich da!«

Unten aber wartete der Bote ungeduldig. Er war hoch und mager, die Backenknochen verliehen seinem wachsgelben Gesicht eine Strenge, wie sie eher bei der Polizei als bei der Post üblich ist. Er machte eine Miene, als trüge er seit vierzig Jahren Briefe aus, und als sei das nicht eben ein Vergnügen. Wahrscheinlich war das kleine Liedchen, mit dem er sich in sämtlichen Häusern der Katzbachstraße Zutritt verschaffte, das letzte Relikt aus den ersten, hoffnungsvollen Tagen seiner langen Dienstzeit.

»Guten Morgen«, sagte D., »ich öffne Ihnen immer die Tür samstags!« – »Ja, wenn Sie Post haben wollen, dann müssen Sie auch die Tür öffnen.« D. überlegte. »Ich mach’s ja auch gerne«, sagte er. – »Irgendeiner muß ja die Tür öffnen!«, sagte der Postbote. »Darum geht’s ja auch gar nicht«, sagte D., »es geht um die Bücher, die gestern hier im Papierkorb waren! Meine Bücher!«

D. sah ihn triumphierend an. Jetzt hatte er den Trumpf ausgespielt. Jetzt würde das preußische Pflichtbewußtsein dieser Berliner Patzigkeit in den Rücken fallen. Aber der Postbote zog die Stirn kraus und sagte: »Das ist nicht mein Problem!« – »Aber meins!« – »Was geht mich Ihr Problem an!« – Das hatte D. nicht erwartet. »Wieso ist das nicht Ihr Problem?« – »Ich war gestern krank. Da war ein anderer.« – »Dann sagen Sie dem anderen …«

D. lief dem Postboten hinterher, auf die Straße hinaus, er zog ihn am Ärmel – er wolle doch nur, daß man in Zukunft die sperrigen Bücher nicht auf den Briefkästen abstelle. Man könne doch klingeln. »Sie können ja eine schriftliche Beschwerde einreichen!«, sagte der Postbote.

»Sie Vollidiot!«, rief D. So etwas hatte Herr D. noch nie gesagt. Jedenfalls nicht zu Fremden. Höchstens zu guten Freunden. Vielleicht würde eines Tages ja doch noch ein echter Berliner aus ihm. Und die Tür öffnet er samstags auch nicht mehr. Wie ein echter Berliner. Obwohl der Bote noch immer »Christel von der Post spielt«. Hans W. Korfmann <br>

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