Kreuzberger Chronik
Februar 2002 - Ausgabe 34

Adolfo Assor Kreuzberger
Adolfo Assor, Theaterschauspieler




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von Hans W. Korfmann

Fotos: Privatarchiv Adolfo Assor

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Während auf der Berlinale Scheinwerfer die Nacht zum Tag machen, während drüben auf dem Potsdamer Platz gewaltige Werbeplakate über die Häuserfassaden gespannt werden, und während Berühmtheiten über dicke Teppiche die Treppen hinaufsteigen und in neugierige Kameraaugen lächeln, steigt Adolfo Assor gerade die schmalen Stufen zu seinem Keller hinunter. Auch er lächelt. Er lächelt schüchtern jenen fünf Zuschauern zu, die an diesem Abend den Weg in den Hinterhof der Katzbachstraße gefunden haben. Ein einziges Schild, eine einzige Glühbirne hat angedeutet, daß hier unten heute »Der Traum eines lächerlichen Menschen« gespielt wird. Über 500 Mal schon hat er ihn gespielt, diesen Traum von Dostojewskij, in den Sommern und den Wintern, fünfzehn Jahre lang, vor 3 Zuschauern und manchmal vor 30.

Jetzt ist Winter, die Fremden vor dem Tisch, auf dem eine Kerze flackert und zwei Bücher von Kafka und Dostojewskij wie heilige Schriften aufgeschlagen liegen, treten von einem Bein auf das andere. Kleine Atemwölkchen entweichen ihren Mündern, wenn sie sich verstohlen umblicken und grinsend etwas zuflüstern. Es ist feucht und kalt im Keller. Vielleicht lächelt er deshalb so ungeschickt und unsicher, dieser Mann, der gerade die Karten abreißt und nachher während der Vorstellung so sicher mit seiner Physiognomie spielen wird, als wäre das ein leichtes Spiel.

Adolfo Assor steht nicht immer auf dieser winzigen Kellerbühne. Manchmal spielt er in Worons »Theatr Kreatur«, oder man engagiert ihn für einen Film. Er sagt, er habe ein »kinematographisches Gesicht«. Das könne man gebrauchen. »Ich war auch schon auf der Berlinale, dreimal sogar. Ich weiß gar nicht mehr, wie diese Filme hießen, in denen ich da mitgespielt habe …« – Dann fallen ihm doch noch zwei ein: »Frost«, hieß der eine, und »Abendland« der andere. »Es waren gute Filme und gute Rollen, aber die kamen nie richtig ins Kino.« Etwas besser lief es mit »Liebe Deine Nächste«, in dem Moritz Bleibtreu die Hauptrolle und Assor den Anführer dieser skurrilen Bettlerschar spielte, die sich da in den Kellern der Stadt herumtrieb. Sie drehten ein paar Tage, und die Bettlertruppe verdiente ein bißchen Geld. Manchmal steht er auch vor einer Fernsehkamera und spielt ein paar Szenen für irgendeine schwachsinnige Serie, die sich irgendwelche schwachsinnigen Leute ansehen. Dann verdient er an einem Tag, was er im Keller den ganzen Monat nicht verdient. »Das ist verrückt. Lächerlich.«

Assor
Im Keller aber arbeitet er! Da unten, mit Dostojewskij und Kafka. Monatelang hat er die »Texte studiert«, die Übersetzungen verglichen, verschiedene Betonungen getestet, vorsichtig einige Sätze aus ihnen gestrichen. Und immer dort, wo bei Kafka und Dostojewskij etwas nur vage zwischen den Zeilen durchschimmert, wo das Wort endet und doch der Sinn von allem zu liegen scheint, da beginnt er zu spielen. Da läßt er Gebärden und Mimik sprechen.

»Natürlich denke ich nach jedem neuen Stück: Das war’s! Ich höre auf! Die Mühe lohnt sich nicht!« Aber wenn er dann sieht, wie sie bei ihm sitzen und frieren und am Ende doch fasziniert sind! »Es ist ja viel schwieriger, vor fünf Zuschauern zu spielen als vor einem ausverkauften Haus.« Und es ist auch viel schwieriger, fünf zu einem Applaus zu bewegen als fünfhundert. Aber es ist eben immer etwas einsam im Keller. In einem vollen Theater ist es wärmer. »Ich war einmal bei einer Aufführung im Haus der Kulturen, ich hatte da in einem kleinen, witzigen Film so eine Rolle, in der ich Spaghetti aß, und diese Spaghetti begannen zu leben. Ich saß da ganz aufgeregt bei der Premiere zwischen all diesen Leuten, hunderten, keiner kannte mich, und dann fingen die an zu lachen, wie verrückt, und da habe ich mitgelacht, auch wie verrückt. Das war toll. Das war phantastisch. Wenn man so mit allen zusammen lachen kann. Das ist überhaupt das Schönste. Lachen!«

Adolfo Assor spricht langsam, auf der Bühne und im wirklichen Leben. Seine Worte zögern und zweifeln noch an sich, sie tasten sich vorsichtig voran, suchen die Präzision. Aber sie sind deutlich. »Manchmal denke ich«, sagt er, während sich tiefe Falten über der Stirn zusammenziehen, »daß ich zu lange philosophiert habe!« Er sieht jetzt aus wie Hamlet, der erstmals ahnt, daß etwas faul ist im Staate. Dann hellt eine Erinnerung die finstere Miene auf: »Aber ich habe auch ganz kräftig gelebt dabei.« Er lacht, man ahnt, er denkt an Feste, Frauen, Freunde, Vergangenes … Am Ende kehrt der Blick in die Gegenwart zurück, fällt auf das Bierglas auf dem Tisch. »Man kann ja auch nicht philosophieren, ohne zu leben.« Trinkt und stellt das Glas auf den Tisch zurück.

Die Szene hätte auf der Bühne spielen können, aber es ist das wirkliche Leben. Schauspieler spielen manchmal nach der Vorstellung weiter, in der Kneipe, im Supermarkt, noch im Kreis engster Freunde. Sie kommen aus ihren Rollen nicht mehr heraus. »Das ist nicht so schlimm. Schauspielen heißt ja nicht unbedingt, daß ich lüge. Man kann auch ein ehrliches Spiel spielen. Die Figuren von Dostojewskij und Kafka zum Beispiel, die verfolgen mich ja sozusagen, die ziehen sich ja wie eine Konsequenz durch mein ganzes Leben. Die gehören längst zu mir. Ich glaube jedenfalls, daß ich ehrlich bin, auf der Bühne und neben der Bühne.«

Trotzdem denkt er immer wieder ans Aufhören, sagt sich, er müsse raus aus der Feuchtigkeit, fragt sich, warum er das alles eigentlich macht. Der Applaus ist es nicht, das Geld ist es nicht, selbst Kafka oder Dostojewskij können der Grund allein nicht sein. Auch Pablo Neruda nicht, dessen Gedichte er vor ausverkauftem Keller vorgetragen hat, und den er einmal gesehen hat, auf der Bühne der Universität von Valdivia, der gleichen Bühne, auf der der 18jährige Assor am Abend zuvor geprobt hatte. Und dann stand da dieser kolossale, beinahe häßliche Mann und sprach mit einer Stimme, »so zärtlich, so bezaubernd«, daß Assor am Ende zu ihm ging und sagte: »Das war gut, das war wirklich schön, Herr Neruda!« Er hatte viel mehr sagen wollen, doch ihm fehlten plötzlich die Worte. Auch dieser Neruda ist es nicht. Adolfo Assor ist »einfach süchtig nach dem Theater«. Wenn er gespielt hat, wenn es vorüber ist, wenn er da steht und sich verbeugt auf der Bühne unter den rauschenden Abflußrohren, dann fühlt er sich plötzlich »leer und leicht«, wie im Rausch. Das Leben ist ja manchmal schwierig. »Aber auf der Bühne habe ich keine Schwierigkeiten mehr. Da bin ich der sicherste Mensch der Welt.«

Assor
Es war in der vierten Klasse, als er die wunderbare Heilkraft des Theaters zum ersten Mal bemerkte. In Valdivia, im Süden Chiles, von dem die Leute sagen, es regne dort 13 Monate im Jahr. Er war verliebt in ein Mädchen, das hieß »Soledar – das bedeutet so viel wie Einsamkeit«. Er mußte vor versammelter Klasse ein Gedicht vortragen, das trug den Titel: »Der Faulpelz«. Er war furchtbar unsicher, denn vor ihm saß das Mädchen, hinter ihm legte die Lehrerin ihre Hand auf seine Schulter, das gesamte Universum geriet aus den Angeln. »Aber irgendwie schaffte ich es, das Gedicht fehlerfrei aufzusagen«, und als er wieder etwas sehen konnte, erkannte er Soledar, und sie sah aus, als bewundere sie ihn. Als Adolfo am nächsten Tag den Klassensaal betrat, wartete der Direktor auf ihn. Er wollte das Gedicht hören, daß dieser Junge so schön rezitiert hätte.

Da ahnte er, daß es Momente gab, in denen er die Schüchternheit, das ganze Elend der Pubertät, dieses ganze schwierige Leben irgendwie überlisten konnte. Er schlich um die Ballettschule der Stadt, wegen der hübschen Mädchen, und irgendwann tanzte er mit ihnen, probte erste Schritte auf dem Bretterboden. Und dann kam eines Tages das Deutsche Kammertheater nach Valdivia, hundert Jahre, nachdem die ersten Deutschen auf der Suche nach dem Paradies mit ihren knirschenden Segelschiffen die chilenische Küste erreicht hatten. Sie fanden nichts als diesen dichten Urwald, »aber die haben geackert wie die Wilden«, gründeten Industrie, und machten irgendwann dieses kleine Valdivia zu einer bedeutenden Stadt. Einige von ihnen waren geblieben, es gab noch immer »jede Menge Stolzenbachs, Kunzmanns und Neumanns«. Für die kam nun das Kammertheater angereist. Und für Adolfo Assor. Denn sie gaben ihm »eine kleine, schweigende Rolle«, die erste Rolle in einem deutschsprachigen Theater.

Schon waren die achtziger Jahre angebrochen, und die ersten, die vor der Diktatur ins Exil geflohen waren, kamen mit ihren Geschichten aus Deutschland wieder zurück. Der junge Schauspieler hörte sich alles an, und 1986, 13 Jahre nach dem Putsch, verließ auch Adolfo Assor sein Land. Ein Jahr später, am 20. November 1987, taufte er einen Keller in der Kreuzberger Katzbachstraße »Garntheater«. Und spielte zum ersten Mal den »Traum eines lächerlichen Menschen«.

Manchmal fragt er sich, warum er das alles macht. »Vielleicht war es wirklich der Faulpelz!« Oder dieses Mädchen, das Einsamkeit hieß. Oder das Deutsche Kammertheater. Am Ende, wenn man zurückblickt, ergibt das alles ja wieder einen Sinn. Obwohl es das eigentlich nur im Theater gibt: »Anfang, Mitte und Schluß. Das wirkliche Leben ist wie ein Fisch, den kann man nicht richtig anfassen. Der entwischt einem immer wieder.«

Also wird er weitermachen, in seinem Kellerloch. Auch wenn er immer wieder ans Aufhören denkt. Aber dann liest er in irgendeinem Buch einige Zeilen und kommt nicht mehr davon los. So wie im Winter des vergangenen Jahres. Seitdem arbeitet der Interpret des »Faulpelz« an einer neuen Inszenierung, manchmal 15 Stunden am Tag. »Dieses Stück wird etwas ganz Neues werden. Weniger tragisch, weniger dramatisch. Es wird ein bißchen über dem Schmerz stehen. Ich habe jetzt lange genug philosophiert. Ich muß langsam raus aus der Kälte und der Feuchtigkeit. Vielleicht werde ich mir eines Tages doch etwas anderes suchen. Helle, lichte Räume … – Das schönste ist ja eigentlich, wenn alle lachen.«

Es wird gut werden, das neue Stück. Es ist immer gut geworden. Assor ist einer, der aus Leidenschaft spielt. Der es ernst meint mit dem Theater. Der nicht anders kann. Weil das Leben sonst wie ein Fisch ist. Noch ist er ein bißchen unsicher, ob es ihm gelingen wird, das ganz Neue. Aber wenn er dann auf der Bühne steht, wird er sicher sein. Nach 15 Jahren Kellertheater. Etwas ganz Neues. Obwohl es wieder ein Stück von Dostojewskij ist. Und obwohl es ausgerechnet »Das Kellerloch« heißt. <br>

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