Kreuzberger Chronik
Dez. 2002/Jan. 2003 - Ausgabe 43

Herr D.

Herr D. beim Arzt


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von Hans W. Korfmann

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Herr D. hatte von seinem Urlaub einige kleine Souvenirs und eine Magenverstimmung mitgebracht. Sein Kollege im Auswärtigen meinte dazu: »Wenigstens was richtiges! – Aber ich weiß eine gute Ärztin!«
Schon, als D. sie mit ihren weißen Birkenstockschuhen und den pechschwarz gefärbten Haaren durchs Wartezimmer laufen sah, als sie die überfüllten Sitzreihen mit den Kranken eher mit wohlwollendem Nicken als mit hippokratischem Mitleid registrierte, erinnerte sie ihn an einen Drachen. Die blonde Sprechstundenhilfe allerdings hatte etwas himmlisches: Mit einem unsterblichen Lächeln rief die Pförtnerin die Namen der Leidenden auf. D. hatte das Gefühl, daß man von hier aus geradewegs das Himmelreich betrat: Er sah keinen einzigen Patienten wieder herauskommen.

Als die Blonde D.’s Namen zwitscherte, zuckte er zusammen. »Sie sind neu bei uns?« D. nickte. »Sie haben ihre Karte dabei?« – D. nickte. »Sie sind privat?« – D. nickte. »Na, das wird die Frau Doktor freuen!« D. nickte. »Und was haben Sie für Beschwerden?« D. nickte. Sie wiederholte: »Was haben Sie für Beschwerden?« – Da spürte D. einen heftigen Windzug hinter sich. Womöglich wehte er von den 60 Ohren herüber, die sich alle gleichzeitig dem Bürotisch zuwandten. Dann hörte er ihre resolute Stimme: »Herr D. – darf ich bitten?«
»Soso, privat also. Wissen Sie, früher war das ein Glück. Heute machen die nur noch Schwierigkeiten. Setzen Sie sich dort hin!« D. gehorchte. »Na, dann erzählen Sie mal!«

D. begann seine Krankheitsgeschichte am zweiten Tag des Urlaubs. Die Ärztin sah auf die Uhr. »Schneller bitte. Sie wissen ja, wir haben nur drei Minuten für jeden Patienten!« Die Ärztin sah auf den Bildschirm ihres Computers und drückte ab und zu eine Taste. Als D. geendet hatte, sagte sie: »Und nun machen Sie bitte den Oberkörper frei!«

Es war wesentlich kälter als in seinem Büro, D. fröstelte. »Wir müssen sparen! Legen Sie sich dort hin!«, sagte die Ärztin. »Haben Sie schon gehört, was die uns verordnet haben: Nullrunde für Kassen, Krankenhäuser und Ärzte!« Sie begann, auf Herrn D.’s Magen herumzudrücken. D. schätzte, daß sie gerade etwa 80 Kilogramm auf seine Magengrube verlagerte. »Tut das weh?« – D. nickte. »Und das?« D. schrie auf. »Nullrunde! Wir kommen doch jetzt schon nicht mehr hin mit unserem Budget! Wissen Sie, was ich für einen Stundenlohn habe?« D. versuchte zu lächeln.

»Sie haben das überfüllte Wartezimmer ja gesehen?« D. nickte heftig. »Aber was soll ich machen? Ich verdiene doch sonst nichts mehr! Und das hier, tut das weh?« Die Ärztin drückte jetzt von der Seite auf D.’s Magengrube ein. D. erinnerte sich an den Boxkampf, den er am Abend im Fernsehen gesehen hatte. »0,8 Prozent Budgetsteigerung waren zugesagt. Und das war schon der blanke Hohn! Erbrechen?« D. schüttelte den Kopf.

Sie ging zu ihrem Schreibtisch und stöpselte sich das Stethoskop in die Ohren. »Wissen Sie eigentlich, was so was kostet? Diese ganzen medizinischen Geräte? Wissen Sie nicht! Dieser blöde Hörapparat hier: Ein Vermögen! Oder wenn sie einen Rollstuhl, eine Prothese, ’nen künstlichen Darmausgang brauchen …« D. zuckte zusammen, das Stethoskop war eiskalt. »Unbezahlbar! Dabei haben die Hersteller eine Zuwachsrate, davon träumt meine Bank. Jedes Jahr im zweistelligen Bereich. Da könnte man Geld holen. Aber nicht bei den Ärzten. Was meinen Sie? Sie können sich wieder ankleiden!«
»Ähm«, sagte Herr D. und zog sich schnell das Unterhemd über den gepeinigten Bauch. »Haben Sie jetzt was gefunden bei mir?«
»Sie nehmen von diesem Mittel dreimal 20 Tropfen. Das schenke ich Ihnen. Und dann holen Sie sich noch das da aus der Apotheke. Wenn es am Freitag nicht besser ist, kommen sie noch mal her.« D. nickte.
»Wissen Sie, wie mir diese Gesundheitsreform vorkommt?«, fragte rhetorisch die Ärztin, »Wie ein sinnloses Herumdoktern an Symptomen! Hier, hier hinten geht es raus. Also, Herr D. – dann bis Freitag!« <br>

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