Kreuzberger Chronik
April 2002 - Ausgabe 36

Die Reportage

Der beschwerliche Weg eines Zeitungslieferanten


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von Hans W. Korfmann
Fotos: Dieter Peters


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Es fällt ein schwerer Schneeregen aus dem schwarzen Himmel. Am »Atlantic« ist es dunkel, über den Tresen des »Turandot« beugen sich die müden Rücken der letzten Gäste, und in der alten »Molle« hat man schon vor ein paar Wochen endgültig das Licht ausgedreht. Halb vier Uhr morgens in der Bergmannstraße. Ein paar Straßen weiter, in der Blücherstraße, ist es noch ein bißchen finsterer. In einem Fenster aber brennt noch Licht.

Früher wurden hier Computer verkauft und repariert, saßen Angestellte an ihren Tischen und standen gutzahlende Kunden vor der Ladentheke. Jetzt steht die Tür offen, Neonlicht fällt aufs glänzende Straßenpflaster. Die Heizung ist abgedreht, der Teppichboden bedeckt nur noch Hälfte des Raumes, unter der zerkratzten Resopalplatte des Schreibtischs gähnen leere Schubladenfächer, und die zwei grauen Bürosessel davor sehen aus, als wären sie endgültig auf ihren Abstellplatz gerollt worden. Leere Nescafédosen und Gläser im Regal, ein Aschenbecher, und die zu Türmen verschnürten Stapel von Tageszeitungen, Tausenden.

Die Männer, die seit halb drei hier hereinkommen, wünschen sich einen »guten Morgen«. Sonst reden sie nicht viel miteinander. Sie sprechen sehr unterschiedliche Sprachen, kommen aus Afrika, der Türkei, Sri Lanka … – Deutsche sind die wenigsten. Die allerwenigsten. Also sehen sie schweigend die Listen ihrer Touren durch, packen wortlos die Handwagen mit der grünen Regenplane und dem Logo der »Morgenpost« mit hundert Kilo bedrucktem Papier voll. Vierzig solcher grünen Wagen für Kreuzberg.

Dann ziehen sie in die nasse Nacht hinaus. Die Zeitungen sind besser vor dem Regen geschützt als die Männer. Dicke Mäntel, steife Regenjacken würden sie nur behindern, dann würden sie ihre Tour durch die Treppenhäuser nicht schaffen bis um Sechs. Denn spätestens um sechs Uhr sollen die Abonnenten ihre Zeitungen am Frühstückstisch haben. Neben dem dampfenden Kaffee und dem Marmeladenbrötchen. Dann will auch der Frühaufsteher, der Angestellte oder der Arbeiter, die Studentin oder die Hausfrau wenigstens eine Spur von Wohlstand genießen. Dafür laufen sie dann, die vierzig Männer mit ihren grünen Wagen. Dafür und für 5 europäische Cent pro Zeitung.

Zeitungsaustraeger
Selvo war schon dabei, als die Lieferanten noch bei den Zeitungen angestellt waren und nach Tarif bezahlt wurden. Da brachte diese Arbeit 1400 Mark Netto ein. Jetzt, da Tagesspiegel & Co. sogenannte Vertriebsagenturen mit der nächtlichen Auslieferung beauftragt haben, verdient er gerade noch knapp 500 Euro. Zum einen müssen die Laufburschen nun auch ihre Sonntagstouren versteuern, zum anderen strich die Agentur das Treppengeld. Immerhin 50 Mark waren das im Monat. Selvo nimmt nicht mehr so viele mit wie früher. Nur noch 280 Stück. Er ist etwas müde geworden. Er läuft schon seit 20 Jahren durch die Straßen, stopfte früher seine Zeitungen in die Briefkästen von Alt-Mariendorf, Lichtenrade, Tempelhof, Tegel … Eigentlich hatte er sein Medizinstudium fortsetzen wollen. Aber für den Tamilen gab es kein politisches Asyl in Deutschland. »Jetzt kenne ich die Treppenhäuser von ganz Berlin«, sagt er und grinst. Er grinst oft.

Anders hielte er das auch nicht durch. Seine Kreuzberger Tour ist eine der schwierigsten im Viertel. Katzbachstraße, Monumentenstraße, Eylauer Straße, Kreuzbergstraße. Altbauten ohne Fahrstuhl und selten Briefkästen im Erdgeschoß. Wenn Selvo einmal ausfällt und andere für ihn einspringen müssen, dann brauchen sie fünf Stunden. Aber Selvo hat seine Tour im Kopf, er braucht keine Liste mehr, kennt seine 280 Zeitungsleser. Er bleibt vor der Haustür stehen, schließt für vier Sekunden die Augen, murmelt die Namen vor sich hin und zieht 3 Tagesspiegel, 2 Berliner, zweimal die taz und einmal die Frankfurter Rundschau aus seinem Stapel. Er hatte gehofft, man würde ihm einmal ein Revier mit vielen Briefkästen im Erdgeschoß zuteilen. Dann bräuchte er die halbe Zeit. Inzwischen hat er diese Hoffnung aufgegeben.

Über hundert Treppen steigt er jede Nacht. Die ersten nimmt er noch im Laufschritt, zwei Stufen auf einmal. Das ist kein sportlicher Ehrgeiz. Er muß sich beeilen, denn wenn er nicht pünktlich um 6 alle Zeitungen in den Briefkästen hat, werden die Leser reklamieren. Wenn sich die Abonnenten beschweren, wird ihm ein Teil vom Lohn abgezogen. Er hat noch nie genau nachgerechnet, wieviel das eigentlich ist. Dann verlöre er womöglich die Lust am Arbeiten. Und das kann er sich nicht leisten.

Obwohl die Mühe ohnehin nicht mehr lohnt. Vielleicht für den Chef der Agentur, der drei Jahre nach der Wende noch mit seinem Trabant anrückte und jetzt im Jeep vorfährt. Aber nicht für die Laufburschen, denen zuerst der Staat die sonntägliche Steuerbefreiung und später die Agentur das Treppengeld strich. Natürlich hat Selvo seitdem oft daran gedacht, die nächtlichen Botengänge einzustellen. Jedesmal im Winter, wenn es kalt ist, und wenn er noch länger braucht wegen der Handschuhe. Oder wenn er naßgeschwitzt ist und sich einen Husten einfängt und die Treppen nicht mehr hochkommt. Aber er hat sich zu sehr gewöhnt an diese Tour. Sie ist längst zu seinem natürlichen Rhythmus geworden, gehört zum Leben wie das Frühstück, das Zähneputzen und das Schlafen. Wie die Zigarettenpause nach der Katzbachstraße mit ihren fünf Stockwerken ohne Fahrstuhl. »Immer, wenn ich an diese Ecke komme, rauche ich eine Zigarette. Als Belohnung.«

Zeitungsaustraeger
Sonst gibt es kaum Belohnungen. Vor ein paar Jahren, als er noch in Lichtenrade unterwegs war, da hatte er zu Weihnachten 4000 Mark Trinkgeld bekommen. Das war nichts Außergewöhnliches. Dieses Jahr in Kreuzberg waren es noch 250 Mark. Das ist auch nichts außergewöhnliches. Die Zeiten werden schlechter. Sogar der Redakteur von der Berliner Zeitung, der darauf bestand, daß Selvo ihm die Zeitung nicht in den Briefkasten steckte, sondern in den fünften Stock hinaufbrachte, gab dieses Jahr kein Trinkgeld mehr. Dreimal hatte er sich schon über den mutmaßlich faulen Lieferanten beschwert. »Obwohl der Herr Redakteur doch keinen Pfennig dafür zahlen muß.«

Die meisten Empfänger der Tageszeitungen kennen ihn nicht. Sie haben ihn nie gesehen, er ist eine Art nächtlicher Spuk. Aber Selvo kennt seine Leser. Er weiß, wer die beiden Exemplare »Neues Deutschland« in seinen Vierteln bekommt, wo die zwanzig taz-Abonnenten wohnen – nämlich »fast alle im 4. Stock« – und die fünfzig Tagesspiegel-Leser. Er weiß, bei wem er sich keine fünf Minuten Verspätung leisten darf, und bei wem er die Zeitung auf die Fußmatte legen und nicht durch den Zeitungsschlitz der Haustür stecken soll. Bei wem er sie, raffiniert zu einem Fluggerät gefaltet, die halbe Treppe hinauf vor die Tür werfen kann, um ein paar Schritte und 15 Sekunden zu sparen.

»Die besten Kunden sind die FAZ-Leser. Da hat sich noch nie einer beschwert. Am schlimmsten sind die Tagesspiegler. Aber das sind ja auch die meisten. Und dann kommen die von der taz. Ehrlich. Ich habe ja früher auch die taz gelesen. Aber daß ich mich beschweren würde, wenn mir so ein Sklave die Zeitung zu spät in den Briefkasten steckt – auf die Idee wäre ich nie gekommen.« Doch sogar der Pfarrer aus der Kreuzbergstraße kannte kein Erbarmen mit dem Morgenlektürelieferanten und beschwerte sich umgehend wegen einer Verspätung.

Selvo kennt sich aus in seiner kleinen Welt. Er weiß, wo im Garten der Hanf wächst, in welchen Treppenhäusern sich in lauen Sommernächten die Liebespärchen treffen, wo der Taxifahrer sitzt und schon auf ihn wartet, wenn er wieder einmal den Schlüssel nicht ins Schloß bekommt. Wo die Türen sind, damit er in den dritten Hinterhof kommt, um wegen einer einzigen Zeitung bis in den vierten Stock zu steigen. Und wo er mit einem einzigen seiner hundert Schlüssel gleich zwei Häuser beliefert, weil er den Durchgang zum Nachbarhof kennt. Er weiß, wo er eine oder zwei Minuten sparen kann. Auf jede dieser Minuten kommt es an, wenn er morgens nicht wie die anderen schon um halb drei in der Blücherstraße stehen will. Wenn er sich den Luxus leisten möchte, erst um halb vier aufzutauchen.

Der Schnee ist allmählich in Regen übergegangen. Später, wenn es Tag wird, scheint vielleicht die Sonne. Die wenigsten ahnen, wie ungemütlich diese Nacht war. Wie lang Selvo dieses Mal wieder brauchte, bis er bei allen ihren Briefkästen war. Sie werden wie selbstverständlich ihre Zeitung aus den Schlitzen ziehen und ihren Beschäftigungen nachgehen wie jeden Tag.

Fünf Uhr ist es jetzt, der Handwagen ist noch halb voll, in den Häusern gehen die ersten Lichter an. Im Hinterhaus der Katzbachstraße holt der Bäcker die ersten Brötchen aus dem Ofen, der ganze Hof duftet. Der Mann mit dem Schäferhund grüßt den Zeitungsmann über die Straße hinweg. Sie sehen sich jeden Morgen. Sieben Tage in der Woche.

Zeitungsaustraeger
Halb sechs. Auch Selvos Frau muß jetzt aufstehen, um den Kindern das Frühstück auf den Tisch zu stellen. Er weckt sie jeden Morgen mit dem Handy. Wenn es kalt ist oder in Strömen regnet, sucht er sich einen Hauseingang und bleibt einen Moment stehen. Aber wenn er zu spät ist, dann telefoniert er im Laufschritt, hinter sich den Wagen herziehend. Zeit für viele Worte hat er nicht.

Sechs Uhr, etwa fünfzig Zeitungen hat er noch, über der breiten Gleisschneise des Anhalterbahnhofs dämmert ein Tag herauf. Der Regen rinnt jetzt in feinen Fäden vom Himmel, und Selvos Frau macht gerade den Laden auf. Selvos kleinen, aber eigenen Laden. Einen Laden mit vielen Zeitungen. Zeitungen sind eben Selvos trockenes Brot.

Selvos Frau hat schon einige BZ verkauft, wenn ihr Mann um sieben nach Hause kommt. Dann fährt er die Kinder in die Schule. Er ist müde und schläft etwas. Bis die Schule aus ist. Dann geht er in den Laden, um bis zum Abend zwischen seinen Zeitungen zu stehen. Bis irgendwann die Geschäfte schließen und auch der Händler der Zeitungen Feierabend macht und das Leben beginnt. Für ein paar Stunden. Bis er irgendwann einschläft. Für ein paar Stunden. Und der nächste Tag beginnt. Mitten in der Nacht. Drei Uhr. <br>

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