Kreuzberger Chronik
Dez. 2001/Jan. 2002 - Ausgabe 33

Reportagen, Gespräche, Interviews

Genosse Peter und Genosse Heinz


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von Hans W. Korfmann

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Friedrichshain-Kreuzberg ist eine Problemzone für die SPD. Denn in Friedrichshain-Kreuzberg sind noch heute Mißtrauen und Widerstand gegen Regierende keine Ausnahme. Man lebt hier noch immer in den Siebzigern, die Mitglieder der Kreisdelegiertenversammlung marschieren mit prall gefüllten Ledertaschen in den Sitzungssaal ein wie Schullehrer und Studienräte. Sie begrüßen einander mit kräftigem Händedruck, als stünden sie vor dem Stammtisch der Werktätigen, und am Buffet gibt es Schmalzstullen und Hackepeter, als befände man sich auf der Baustelle. Zum Löschen des Durstes bietet man den Genossinnen und Genossen Büchsenbier für zwei Mark an. Die Cola gibt es zum Solipreis von 1 DM. »50 Pfennig des Verkaufspreises dienen zur Unterstützung der USA, 50 Pfennige gehen an den Verkäufer«, bemerkt dazu ein PDSler, der zur Feindbeobachtung abkommandiert wurde und mit seiner Büchse Bier im Sitzungssaal Platz genommen hat.

Mit forschem Schritt betritt nun ein Mann mit dezent bunter Krawatte über hellblauem Hemd den Saal, grüßt kurz nach rechts und links und steuert zielstrebig auf das Podium zu. Es ist Stephan Zackenfels, frisch ins Berliner Abgeordnetenhaus gewählt, der die Moderation des heutigen Abends übernehmen wird. Er repräsentiert den moderaten, modernen Typus des Sozialdemokraten. Die Grünen würden ihn trotz des hellblauen Hemdes als einen der ihren identifizieren, einen, der wie sie »endlich in der Realpolitik angekommen« ist. Diese junge Generation der Politiker wird ferner repräsentiert durch mehrere Trenchcoatträger und die leider etwas verwaschen wirkenden vier rosafarbenen Pullover und Blusen einiger weiblicher Vertreter. Einen kräftigen Kontrast zu den blassen Erscheinungen der neuen Generation stellt eine Dame mit dunkel-rotem Wollpullover und dazu passendem roten Wollschal dar. Kombiniert hat sie die politisch eindeutige Tracht allerdings mit Frisur und Figur einer Süßwarenverkäuferin Karstadts. Verstärkt wird die nostalgische Fraktion durch zwei sozialistisch anmutende Vollbärte, drei Genossen in Jeans und einen Mann mit ordentlichem Bauch und kariertem Holzfällerhemd. In der Hand hat er zwei Zeitungen, taz und BZ. »Hallo Heinz«, sagt einer im Vorübergehen und nickt dem Altgenossen freundlich zu. Dann flüstert er zum Nachbarn: »Heinz tritt aus!« – »Wirklich?«, flüstert der Nachbar zurück. Ein allgemeines Gemurmel setzt ein und endet erst, als ein Mann den Saal betritt, der mit ganz besonderer Aufmerksamkeit begrüßt wird. »Hallo Peter – Hi Peter – Grüß Dich Peter – Genosse Peter!« Peter schüttelt viele Hände, nickt kurz, aber freundlich, und blickt sich im Saal um. Peter hat den besten Schneider im Saal, der Anzug sitzt.

»Ich freue mich, unseren Landesvorsitzenden begrüßen zu dürfen«, sagt Stephan Zackenfels, nachdem seine kleine Klingel um Aufmerksamkeit gebeten hat, »und denke, daß wir gut daran getan haben, ihn heute zu uns zu bitten, damit er uns noch einmal die Gedanken der Landesebene vermittelt.«

Wahrscheinlich hätte er den Landesvorsitzenden gar nicht einzuladen brauchen. Genosse Peter wäre ohnehin gekommen. Denn auf den Tischen vor den Delegierten von Friedrichshain-Kreuzberg liegt an diesem Abend ein Antrag zur Einberufung eines Landesparteitages. Über ihn soll heute abend noch abgestimmt werden. Und darin heißt es unumwunden: »Der Landesvorstand der Berliner SPD wird beauftragt, sofort Koalitionsverhandlungen mit Bündnis 90/Die Grünen und der Partei des Demokratischen Sozialismus aufzunehmen.« Genosse Peter hält das Handy ans Ohr und betrachtet sein Schuhwerk. Friedrichshain-Kreuzberg ist eben eine Problemzone. Einer der Delegierten hat sogar die taz vor sich aufgeschlagen. Es ist der Mann mit dem Holzfällerhemd, Heinz. Heinz betrachtet drei Kampfflugzeuge, die vom Himmel stürzen. Überschrift: »Mit Volldampf in die Niederlage!« Strieder tritt ans Mikrophon:

»Ja, liebe Genossinnen und Genossen, ich möchte mich zuerst einmal bei Frau Kampfhenkel für den erfolgreichen Wahlkampf bedanken, und bei all den anderen Helfern aus der ersten, zweiten und dritten Abteilung. Das Wahlergebnis insgesamt in Kreuzberg ist ja nicht so schlecht. Nein, es ist eigentlich sehr gut. Aber Kreuzberg besteht nicht nur aus Kreuzberg, wir heißen jetzt Friedrichshain-Kreuzberg.«

»Ach!«, sagt Heinz. Er ist auf der nächsten Seite der taz angelangt. Überschrift: »Globalisierung ist alltäglicher Terror«. Genosse Peter sagt: »Und in Friedrichshain ist das Wahlergebnis nicht so gewesen, wie wir uns das vorgestellt hatten!«

Wahlplakat
Foto: Dieter Peters
»Nö!«, sagt Heinz. »Und das ist für die SPD ’ne ganz schwierige Situation!«, sagt Genosse Peter. »Denn wir müssen dort ebenso viele Stimmen bekommen wie im Westen, und wir müssen vielleicht, lieber Stephan« – der Redner sieht kurz zu seinem Zuhörer mit dem Glöckchen hinüber –, »noch einmal über den Wahlkampf sprechen.« Stephan Zackenfels nickt, und Genosse Peter fährt fort: »Aber Klaus Wowereit steht auf den Schultern der gesamten Partei. Das ist der eigentliche Prozeß, den wir in diesem Jahr hingekriegt haben. Daß man nämlich keine Angst mehr zu haben braucht, wenn man auf den Schultern der Partei steht, weil man ständig einen Spagat machen muß, bei dem man garantiert durchfällt. Weil nämlich die Partei endlich geschlossen zusammensteht.« sagt Genosse Peter. »Hm«, sagt Heinz und wirft einen Blick auf die nackte Blondine in der BZ.

»Die Wahl hat aber auch – übrigens auch in Friedrichshain-Kreuzberg – gezeigt, daß die CDU nicht mehr die Mitte der Gesellschaft repräsentiert. Und daß das ein strategischer Punkt für die Berliner SPD ist …« – Genosse Peter zögert nun einen Moment, aber dann fährt er mit fester Stimme fort: »nun die Mitte zu besetzen …« Ein Nachbar von Heinz brummt: »Laß uns doch erst mal Afghanistan besetzen, und dann können wir über die Mitte reden!« Die Mitte sei die Mehrheit, sagt Genosse Peter. Er hat erkannt, daß die SPD nun auch in wohlhabenden Bezirken Stimmen machen kann, »aber die Menschen, die in Charlottenburg-Wilmersdorf Rot-Grün gewählt haben, outen sich ja nicht als linksradikale Lehrer, die haben doch nicht das Proletariat gewählt, sondern die Mitte. Die wollten eine liberale, sozial gerechte …« Heinz wirft noch einen letzten Blick auf die Blonde und blättert um. Es raschelt deutlich. »Deshalb haben wir uns mit den Grünen zusammengesetzt, wir haben mit der FDP geredet. Wir haben auch bei der PDS durchaus Ansatzpunkte gesehen, mit denen zusammenarbeiten zu können.« Sagt Genosse Peter und räuspert sich. »Wir hätten uns mit ihr auf eine Politik für Berlin verständigen können.« Aber die PDS sei eben nicht die Mitte. Die Genossinen und Genossen hätten es ja sicherlich gehört, daß die Bundesregierung ein Bündnis mit der PDS nicht gerne sehe. Und deshalb sei Rot-Rot schlecht für Berlin. Genosse Peter jedenfalls sei sich »sicher, daß wir das in einem finanziellen Maße erheblich gespürt hätten.« Außerdem: »Bei einer Ampel sind die Verhältnisse 30 zu 9 zu 9. Da ist doch aus Eigeninteresse der SPD klar, wer die Hosen anhat«, sagt Genosse Peter. Genosse Heinz sagt: »Und wer die Hosen runterläßt!«

»Das heißt, es gibt eine Partei, die den Führungsauftrag hat und wahrnimmt, und zwei kleinere Parteien, die natürlich dabei sind, auf die man Rücksicht nehmen muß, keine Frage, natürlich, aber klar ist …«. Heinz studiert das Fernsehprogramm und fragt sich, ob er nicht besser zu Hause geblieben wäre. Aber Genosse Peter kommt zum Ende seiner Rede: »Und deshalb bin ich nach Abwägung all dieser Vor- und Nachteile zu dem Ergebnis gekommen, die Bildung einer Ampel für möglich zu halten.«


Peter Strieder formuliert es vorsichtig. Er weiß, in Friedrichshain-Kreuzberg regt sich ein letzter Rest von Widerstand. Sogar in der SPD. Fast eine Stunde hat die Nachwahlrede gedauert. Der Applaus ist etwas müde. Aber zumindest gab es keine Zwischenrufe. Nur undifferenzierbares Gemurmel. Genosse Peter geht auf seinen Platz zurück. Er ist sich nicht sicher, ob er sie überzeugt hat. Man kann sich in diesen Problemzonen nie ganz sicher sein. Unter diesen unbelehrbaren Altlinken, die noch immer glauben, die SPD sei eine Arbeiterpartei. Und diesen ewigen Neinsagern aus dem Osten. Aber er kennt ihre Argumente. Genosse Strieder war auch einmal ein Linker. Auch einmal ein Kreuzberger. Genosse Strieder sucht in seiner Jackentasche nach dem Handy. Jetzt haben erst einmal die anderen das Wort. Aber am Ende, wenn alle gesprochen haben, wird Genosse Strieder noch aufs Podium treten. Dann hat er noch eine letzte Chance, das Ruder herumzureißen und Zweifler auf die rechte Seite zu ziehen.

Die Redezeit der Ampel-Gegner allerdings wird schon nach den ersten fünf Wortbeiträgen mit einer kleinen, silbernen Glocke auf drei Minuten begrenzt. Die Redner sprechen vom Verlust der sozialdemokratischen Werte, von den machtpolitischen Argumentationen des Landesvorsitzenden, von Erpressung durch den Kanzler, von einer fehlenden inhaltlichen Debatte, und von der Illusion, mit nur zwei Stimmen Mehrheit gegen die stimmenstarke Opposition von CDU und PDS fünf Jahre lang regieren zu können. Einer von ihnen scheut sich nicht, auch im Jahr 2001 seine Rede noch mit einem Zitat von Rosa Luxemburg zu beginnen: »Es ist ja schon eine revolutionäre Rede, das zu sagen, was ist.« Und dann fügt er an: »Peter Strieders Rede ist keine revolutionäre gewesen. Sondern eine sozialdemokratische.« Genosse Peter lacht: »Ich empfinde das als Lob!«

Da legt Heinz die BZ aus der Hand und tritt ans Mikrophon. Er hat von allen, die heute dort vors Rednerpult stiegen, den sichersten Tritt. Er sagt, daß der Wahlausgang weniger den Führungsauftrag der SPD belege, wie Herr Strieder und andere Parteimitglieder gerne suggerieren würden, sondern vor allem eines: »Abwählung der großen Koalition, neue Koalition mit neuer Regierung!« Einige klatschen. »Nichts anderes geben die Zahlen her! Ampel bedeutet die Fortsetzung der großen Koalition. Zusammen mit einer FDP, die 16 Jahre lang einen gräßlichen Sozialabbau betrieben hat und dafür mit Recht zum Teufel gejagt wurde. Und mit denen legen wir uns jetzt wieder ins Bett. Wir treiben es mit jedem!« Heinz macht nicht viele Worte. Für jeden Absatz, jedes Thema braucht er drei Sätze. »Und eines noch zum Kanzler: Ihr glaubt doch nicht wirklich, daß Gerhard Schröder so dusselig ist, daß der die Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland verkommen läßt, indem er die erforderlichen Mittel zum Überleben dieser Stadt nicht zur Verfügung stellen würde. In diesem Poker haben die, die sich auf die Ampel eingelassen haben, wenig starke Nerven bewiesen. Die haben von Regieren und Pokern keine Ahnung.« Einige lachen, einige applaudieren. »Und noch ein letztes Wort zur Zukunft: Die SPD wird langsam zur Bonzenpartei …« Herr Zackenfels klingelt mit der Klingel. Aber Heinz fährt fort, und dann sagt er: »Ich muß Euch sagen, mir blutet das Herz, wenn ich sehe, was aus dieser einst so wertvollen Partei geworden ist. Und weil das so ist, wird das meine letzte Rede hier sein, weil ich nämlich morgen aus dieser Partei austrete.«

Peter Strieder sagte nichts zu Heinz. Dabei war Heinz viele Jahre in der Partei. Peter Strieder sprach weiter über die Vorteile der Ampel. Wieder erhielt er etwas Applaus. Aber am Ende waren 25 der stillen Zuhörer auf der Seite ihres Landesvorsitzenden. Die fünfzehn Redner, die den Antrag gegen eine Ampelkoalition unterstützten, waren offensichlich ganz unter sich geblieben. <br>

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