Kreuzberger Chronik
September 2023 - Ausgabe 252

Geschichten & Geschichte

Wie der Leierkasten aufs Plattencover kam


linie

von Ernst Malakowski

1pixgif

In den Siebzigern gab es noch keine Geschäftsführer in den Kneipen. Jedenfalls nicht in Kreuzberg. Da gab es Kollektive oder den Wirt, den Zapfer und den Schlepper. Vielleicht noch die »Putze«, ganz unten in der Hierarchie. Die Zapfer stiegen manchmal zum Wirt auf. So auch der vom Leierkasten. Und das war so ziemlich das Größte, was ein Kreuzberger Zapfer erreichen konnte: Wirt vom Leierkasten.

So wie in den meisten Kneipen damals spielten auch in der Zossener Straße ständig irgendwelche Bands. Eine der beliebtesten war die Omega Jazz Band, eine Berliner Truppe, die über die Stadt hinaus bekannt geworden war. Wenn die Jungs auftraten, standen die Leute am Eingang Schlange. Nicht nur, weil die eine gute Mucke spielten, sondern wegen dieses Rituals, das es gab im Leierkasten, wenn die Omega Jazz Band spielte. Der zum Wirt aufgestiegene Zapfer erinnert sich. »Jedes Mal, wenn im Publikum einer Ice Cream rief, grölten sie los: I scream, you sream, ... everybody wants Ice Cream... Und jedes Mal, wenn sie dieses Lied spielten, spendierte das Publikum den Musikern eine Runde. Ich glaube, es gab keinen Abend im Leierkasten, an dem die nicht mindestens fünf Mal Ice Cream spielen mussten, und das ganze Lokal sang mit und trank mit.«

Die Omega Jazz Band war eigentlich die Hausband der Eierschale, trotzdem verabredeten sich die Musiker am Samstagnachmittag vor dem Leierkasten, als es darum ging, Fotos für das Cover einer Langspielplatte aufzunehmen. »Das sprach sich natürlich herum in der Gemeinde«, und als die Band mit ihren Instrumenten vor dem Leierkasten posierte, waren die Stammgäste schon da. So landete die heruntergekommene Fassade des Eckhauses mit Kreuzbergs berühmtester Kneipe auf dem Cover einer Langspielplatte mit dem Titel Riverside Blues.

»Der Laden war an dem Abend natürlich wieder mal rappelvoll. Um halb neun fingen sie an zu spielen, und die Ruine fing an zu wackeln. Das Bier floss in Strömen, ständig Ice Cream, everybody want´s Ice Cream.... Was für ein Lärm in der Baruther Ecke Zossener! Die Toten auf dem Friedhof gegenüber müssen schlecht geschlafen haben in dieser Nacht. Das war so ein Abend, von dem noch Jahre später gesprochen wurde.«

Am Sonntag sollten weitere Bilder von der Band bei einem Konzert im Tiergarten gemacht werden, und obwohl die Gäste eine lange Nacht hinter sich hatten, pilgerten mindestens hundert Leute los, nur um eventuell mit aufs Cover oder auf die Rückseite der Platte zu kommen. Auch der Zapfer fehlte nicht.

Der war auch dabei, als ein paar Wochen später die White Eagle Band mit Gerhard Tenzer am Schlagzeug einen Auftritt im Hamburger Cotton Club hatte. Claudius, der Posaunist, hatte den Zapfer gefragt: »Du hast doch ein Auto, und die White Eagle und ich, wir bräuchten eine Tour nach Hamburg. Hast du Zeit?«

Er hatte Zeit, aber der Posaunist hatte schon auf der Fahrt so viel Bier getrunken, dass er den Cotton Club nicht mehr fand. Als sie endlich ankamen, waren die Türen noch zu. Also gingen sie gegenüber in die Baumwolle, das Bier floss in Strömen, und »Claudius war inzwischen voll von Nacken bis Hacken. Kein Ende in Sicht! Plötzlich ging die Tür auf und so ein Riese steht da. Es wurde augenblicklich dunkel in dem kleinen Lokal. Und dann setzt sich dieser Hirte auf den freien Stuhl zwischen Claudius und mich. So richtig wohl war mir auf der Position nicht, der schweigende Hirte rechts und der besoffen labernde Claudius links. Als sich der Neue ein Bier bestellte brüllte Claudius: Ey, du Arsch, du wirst das doch nicht alleine trinken wollen? Ich würde auch noch was nehmen! – Darauf der Hirte: Dann musste dir was bestellen

Dem Zapfer wurde immer mulmiger zwischen den Fronten, und irgendwann hatte der Riese genug von Claudius und drohte damit, ihm »eins auf die Schnauze« zu geben. Da musste der Zapfer einschreiten.Er sagte: »Das geht nicht. Claudius ist der Posaunist, der spielt in ´ner halben Stunde drüben im Cotton, aber mit ´ner dicken Lippe geht das nicht. Ich mach dir ´nen Vorschlag: Ich zahle dir so viel Bier, wie du trinken willst, und du lässt den Claudius einfach in Ruhe.«

Der Riese schien einverstanden. Da klingelte plötzlich das Telefon hinterm Tresen. Der Wirt vom Leierkasten war dran und fragte nach Claudius. Dann erzählte er ihm, dass er im Lokal eine Posaune gefunden habe, und ob das vielleicht seine sei. Claudius zog den Instrumentenkoffer unter dem Hocker hervor und klappte ihn auf. Er war leer.

Aber Claudius Littbarski war einer der wichtigsten Männer im Leierkasten. Also stieg der Wirt in den nächsten Flieger nach Hamburg und brachte Littbarski sein Instrument. Das Konzert begann halbwegs pünktlich, und es soll natürlich einer der besten Auftritte der White Eagle Band überhaupt gewesen sein.

»Claudius Littbarski war ein verdammt guter Posaunist. Der hätte berühmt werden können. So wie Pierre, sein Neffe, der ist ja Fußballweltmeister geworden mit Völler und Klinsmann und wie die alle hießen. Aber der Claudius hat zu oft Icecream gespielt, um wirklich berühmt zu werden.« Sein Ende im Oktober 87 war tragisch, wie das so vieler Musiker. Er ertrank in der Badewanne. »Wenn du das heute jemandem erzählst, dann glaubt dir das keiner. Aber stell Dir mal vor, am nächsten Tag stand das auf allen Titelseiten: Tod in der Badewanne! Da war in der gleichen Nacht Uwe Barschel, der Ministerpräsident von Schleswig-Holstein, tot in seiner Badewanne aufgefunden worden...«


zurück zum Inhalt
© Außenseiter-Verlag 2024, Berlin-Kreuzberg