Kreuzberger Chronik
September 2023 - Ausgabe 252

Reportagen, Gespräche, Interviews

Zwischen Pollern, Bügeln und Baken


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von Edith Siepmann

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Am Chamissoplatz wird die Verkehrswende vollzogen. Die Anwohner erfuhren von den Umbauten erst, als die Bagger anrollten. Ein mehrstimmiges Stimmungsbild.

Ein Stadtplatz ist der öffentliche Mittelpunkt einer Nachbarschaft. Idealerweise so etwas wie eine italienische Piazza. Alt und Jung, Dick und Dünn laufen sich dort über den Weg, plaudern, spielen, betrachten das Leben der Anderen. Er ermöglicht ein Gemeinschaftsgefühl unter eigentlich Fremden und muss das Kunststück vollbringen, unterschiedlichen Nutzungen gerecht zu werden.

Der fast 150 Jahre alte Chamissoplatz ist ein funktionierendes Zentrum inmitten einer dichten Gründerzeit-Blockbebauung. Doch seit einem Jahr finden dort Umbaumaßnahmen statt, die den charmanten Charakter eines der schönsten, unter Denkmalschutz stehenden Berliner Plätze stark verändern. Der Historiker Hanno Hochmuth erreichte Ende Januar mit seinem Tagesspiegel-Brandbrief zum Chamissoplatz als »Opfer der Verkehrswende«, dass die Öffentlichkeit auf die rabiate Umstrukturierung aufmerksam wurde. Rotweiße Poller und Warnschilder mitten auf der Straße sowie plumpe Fahrradbügel stellen nun die historischen Gaslaternen, die alten Wasserpumpen und das gusseiserne Café Achteck in den Schatten. Hochmuths Artikel und eine Flut von Beschwerdebriefen von Anwohnern riefen schließlich den Landeskonservator auf den Plan, und es wurde mit der Bezirksverwaltung vereinbart, wenigstens die massiven Pfosten durch historisierende schlanke Poller zu ersetzen.

Heute, über ein halbes Jahr später, ist die Stimmung weiterhin angespannt. Eine große Anzahl der Warnpoller sind inzwischen ausgetauscht, zehn neue Gehweg-Vorstreckungen teilweise fertig, über 80 Fahrrad- und Motorradbügel ins alte Pflaster betoniert. Nach Bezirkswillen soll der Platz als Berliner Modellprojekt herhalten für den »Kiez der Zukunft«. Es sollen »Flächengerechtigkeit« und »Mobilitätswende« demonstriert werden. Das sei »Bürger*innenwille« und Ergebnis jahrelanger Bürgerbeteiligung, so die Stadträtin für Straßenbau- und Grünflächen in einer Presseerklärung. Damit ist das 2019 beendete Partizipationsverfahren zur Bergmannstraße gemeint, in dem zwar Besorgnis über die Verlagerung des Verkehrs in Nachbarstraßen und der allgemeine Wunsch nach mehr Platz für Fußgänger und Radfahrer geäußert wurde, aber eine Umgestaltung des Chamissoplatzes nie Thema war. Teilhabe und Information - da können die Anwohner nur lachen!

»Wir hatten eine Diskussionsveranstaltung am 6. Juni in der Passionskirche geplant. Alle Verantwortlichen sagten ab, keine Zeit. Das Bezirksamt hat sich kommunikativ weggeduckt.« , erzählen Gabi und Hanno. Harald, Organisator des vor fast 30 Jahren von Anwohnern ini-tiierten Ökomarkts, wurde vor vollendete Tatsachen gestellt. »Auf einmal waren da Baustellen und gesperrte Straßenteile.« Warum gerade auf diesem verschlafenen Platz, um den es kaum Verkehr und sicher kein erhöhtes Unfallpotential gibt, nun Querungsnasen und Fahrbahnverengungen gepflastert werden, darüber diskutiert man vorm Cafe Marameo beim Cappuccino. Eigentlich ist es verboten, hier zu sitzen, denn hier ist jetzt ein Fußgängerüberweg. Die Neuaufteilung des Straßenraums, wo vorher in meist friedlicher Koexistenz geparkt, gekauft, gegessen wurde, führt zu neuen Interessenskonflikten. Mittig auf beiden Straßenseiten stehen jetzt zwei mal 20 Meter Bügel und Poller. Damit verliert der Markt fast die Hälfte seiner Standfläche.

»Dass sich das für uns nicht mehr rechnet, interessiert das Bezirksamt nicht. Eine Vertreterin aus der Verwaltung hat uns geantwortet, dass das Lebensmittelangebot für den Kiez sowieso erfüllt sei, der Bezirk müsse keine Marktflächen vorhalten. Als ob der Markt nur eine Nahrungsabwurfstelle ist! Er ist Treffpunkt! Es gibt Stände, die sind seit 29 Jahren jeden Samstag hier!«, empört sich Harald. Er glaubt nicht, dass die fehlenden Absprachen böser Wille sind, sondern dass im Bezirksamt schlicht hoffnungslose Überlastung herrscht.

Absurd sei, dass neben dem Eingang zum Spielplatz eine Parkfläche für Motorräder installiert wurde, die jetzt eifrig von privaten Vermietungsfirmen genutzt wird. »Wie sollen wir die Leute denn daran hindern, verbotenerweise durch den Markt zu fahren?« Harald ist sauer. Sergeij nippt am Espresso und erinnert sich an einen Beschluss von 1983, als er selbst noch Abgeordneter der Alternativen Liste war. Die Bezirksverordnetenversammlung empfahl damals ausdrücklich, dem Ökomarkt am Chamissoplatz Straßenland zu vermieten.

Gabi versteht nicht, dass überhaupt öffentlicher Raum für E-Bike- und E-Roller-Firmen zur Verfügung gestellt wird. Das gehöre wohl zur Förderung der E-Mobilität. Gabi teilt sich ein Auto mit zwei Familien und meint, dass die Abschaffung von Parkplätzen nicht ohne Anhörung der Betroffenen geschehen sollte. »Das ist ein Prozess. Ich finde es gut, dass etwas gegen den Klimawandel getan wird und dass der Bezirk damit anfängt. Nur diese aggressive Form, das Auto von heute auf morgen durch das Fahrrad ersetzen zu wollen, finde ich unangemessen. Manche sind einfach darauf angewiesen.«

Was gar nicht gehe, sei die Sackgassenregelung, die in den Abschnitten Willibald-Alexis-Straße und Arndtstraße durch Poller auf der Straße durchgesetzt und wegen Bauverkehr wieder aufgehoben wurde. »Das ist voll kontraproduktiv. Die Autos müssen wenden, und das ist gefährlich für die vom Bolzplatz rennenden Kinder. Denn wenn die ohnehin gestressten Autofahrer auf der anderen Seite der Poller einen Parkplatz sehen, dann rasen sie auf ihrer Parkplatzjagd einmal um den ganzen Block und wieder rein in die Einbahnstraße. Da entstehen Abgase und viel zusätzlicher Verkehr! Wir Anwohner wollen auf dem Verkehrsausschuss des Bezirks als Experten gehört werden.« Das Bezirksamt teilt auf Nachfrage mit, dass nach Ende der jetzigen zweiten Umbauphase, deren Kosten von 150.000 Euro aus Mitteln für fußgängerfreundlichen Umbau stammen, die beiden Sackgassen wieder entstehen und in der dritten Phase ebendort Fußgängerzonen eingerichtet werden. Die Cappuccinotrinker sind sich einig: Insgesamt wirken die Verkehrswende-Umbauphasen am Chamissoplatz dilettantisch.

Rotweiße Poller stehen am Spielplatzeingang, wo niemals ein Fahrzeug hineinfuhr. Die vorm Café geparkten Räder und die Warnbaken versperren den Blick der Autos auf querende Kinder, und die realisieren die Straße nicht mehr. Hätten nicht einfach Parkverbote und ein Schild »Begegnungszone« genügt? Dann wäre viel Geld für anderes übrig geblieben.

John aus der Fidicinstraße, Kulturaktivist, versteht nicht, wie man einen Platz so funktionell zerteilen kann. »Die ganze Variabilität ist damit hin. Wie soll hier bei den vielen Pollern und Absperrungen noch ein Fest stattfinden können?« Tom, der sich per Rollstuhl fortbewegt, ist erleichtert, dass vor seiner Haustür endlich die Bürgersteige abgesenkt werden. »Das ist schon viele Jahre fällig, und zwar überall.« Was die vielen Poller neben den abgesenkten Randsteinen sollen, versteht er nicht. Sie sind zusätzliche Barrieren. Auch dass nicht die ganze Ecke auf Fahrbahnniveau endet, macht nur dann Sinn, wenn Verkehrserziehung beabsichtigt ist: Hier fahre rüber, dort nicht!

Hanno Hochmuth, dessen Vorfahren schon am Chamissoplatz wohnten, wundert sich über die Anmaßung, einen historischen Platz, dessen 1862 festgelegte Dimensionen damals ein Mit- und Durcheinander aller Verkehrsteilnehmer auf der Straße ermöglichte, so brutal umzuformatieren. Die großzügigen Sichtachsen, die Wolfgang Krolow in vielen Fotos festgehalten hat und die zur Kulisse vieler Filme wurden, sind entstellt. Nasen, Poller, Bügel ragen ins historische Straßenprofil. So soll also der Kiez der Zukunft aussehen: überschildert, übermöbliert, überreglementiert. Laut Statistik passieren dadurch mehr Unfälle als in einer unbeschilderten Begegnungszone, in der jeder auf jede achten muss. Die Kreuzberger Umsetzung der in vielen Städten bewährten Idee vom »Superblock« als verkehrsberuhigtem städtischen Wohnquartier wirkt eher altbacken als super. Und spaltet zudem die Bewohner.

Hanno kann sich vorstellen, dass die 53 Stimmen, die den Grünen bei der Wiederwahl im Februar fehlten, am urgrünen Chamissoplatz verscherzt wurden. Politikverdrossenheit entsteht auch durch Ignoranz der Politiker. Eine Maxime von Luciano de Crescenzo: troppo ordine crea disordine – zuviel Ordnung schafft Unordnung. Und das erst recht in Kreuzberg!


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