Kreuzberger Chronik
November 2021 - Ausgabe 234

Herr D.

Der Herr D. trifft einen Erzähler


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von Hans W. Korfmann

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>Von einem kalten Novembermorgen

Der Herr D. fror. Es war ein grauer Novembertag. Dennoch saß er vor dem Atlantic, trank Kakao mit Rum und schlug die Zeitung auf. Immer noch schrieben sie über die Wahlen - als ob das noch irgendjemanden interessieren würde.

Da kam der weißhaarige Türke mit dem Megaphon um die Ecke: » Ole – ole-ole-ole... .« Der Mann, der seit 25 Jahren mit seinem Fahrrad durch Kreuzbergs Straßen fuhr und sich beschwerte, dass es kein Ausländer-Wahlrecht gab. »Manchmal«, sagte der Herr D. zu Vladimir am Nebentisch, »ist alles noch ein bisschen wie früher!«

Und Vladimir sagte: »Wenn der hier nicht mehr durch die Straßen fährt, ist Kreuzberg gestorben. Und außerdem: Der Mann hat Recht. Ich wohne seit 35 Jahren in Berlin, aber ich darf nicht wählen. Ich habe nur eine Stimme: die für die Bezirksverordnetenversammlung.«

Vladimir hatte russische Vorfahren, sein Großonkel war ein berühmter Mann gewesen, der bei der Gründung Israels mit am Tisch gesessen hatte, sein Vater ein Professor, und er selbst saß an Steinwayflügeln in Konzertsälen überall auf der Welt. Also hatte er viel zu erzählen, und immer erzählte er mit einem Lächeln. Es ärgerte ihn auch nicht, wenn er nicht wählen durfte, es amüsierte ihn:

»Also bin ich hin, um die Bezirksverordneten zu wählen. Chaos! Schlange bis auf die Straße hinaus, nur eine einzige Kabine! Und vor mir in der Reihe so ein altes Männeken mit Krückstock. Endlich ist er an der Reihe, wackelt in die Wahlkabine, tock, tock, tock, setzt sich auf den Stuhl und beginnt zu lesen. Man sah seine dünnen Beinchen unter dem Vorhang. Fünf Minuten, zehn Minuten, in der Kabine hört man das Papier rascheln, so viele Blätter waren das, da hätte man drauf schlafen können. Und hinter mir beginnt das Gemurmel und das Füßescharren. Endlich kommt er raus, und da fallen ihm die ganzen Zettel aus der Hand. Kommt die Wahlhelferin, eine hübsche, in jedem Ohr zwanzig Ringe, und hilft ihm beim Einsammeln. Dabei fällt ihr auf, dass er gar nicht gewählt hat. Also erklärt sie, dass er Kreuzchen machen müsse, hier oder da, auf jedem Zettel eins, weil die Stimme sonst ungültig sei. Da sagt er: Ick will die aber alle nich! - Daraufhin sie: Das geht nicht, dann ist Ihr Stimmzettel ungültig. Also geht der alte Mann zurück in die Kabine, zehn Minuten, fünfzehn Minuten, zwanzig- hier, ich habe ein Foto gemacht, da siehst Du die Beinchen in der Wahlkabine - die Schlange hinter mir wird immer unruhiger. Gleich bricht die Revolution aus. Da kommt er wieder raus, die losen Zettel in der Hand, reicht sie der Wahlhelferin rüber und sagt: Tut mir leid, ick will die wirklich alle nich! – und wirft den ganzen Stapel in einen Papierkorb.«

Russen sind wunderbare Erzähler. Der Herr D. saß noch eine ganze Weile mit Vladimir im Café und dachte: Manchmal ist es wirklich noch ein bisschen wie früher.«


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