Kreuzberger Chronik
April 2021 - Ausgabe 228

Strassen, Häuser, Höfe

Die Kochstraße 58


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Autor unbekannt

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In der Gastwirtschaft Gosch an der Ecke zur Poststraße sollen während der Kämpfe am 18. März 1848 die königlichen Truppen auf Befehl des Hauptmanns von Puttkamer »entsetzlich gewütet« haben, wie der Student und Augenzeuge Paul Börner es später formulierte. Bei der Auseinandersetzung zwischen Staat und Volk kam unter anderem der Historiker Gotthold Heine ums Leben, der erst wenige Monate zuvor von seinen Reisen ins südliche Europa zurückgekehrt und mit seinen Aufsätzen über die politisch-religiösen Machtkämpfe in Europa auf sich aufmerksam gemacht hatte.

Gotthold Heine wohnte in der Kochstraße 58, benannt nach einem braven Bäckermeister, der seinem König einst ein Stück Land zum Bau der Friedrichstraße zur Verfügung gestellt hatte. 2008 wurde ein Teil der Straße umgewidmet und mit dem Namen eines revolutionären Studentenführers der 68er-Bewegung geschmückt: Rudi Dutschke. Auch Heine hätte es verdient, aufs Straßenschild gehoben zu werden. Der Historiker stand seinerzeit in einer Reihe mit Persönlichkeiten und Wissenschaftlern wie Grimm, Böckh und Arndt, Namenspatronen von gleich drei Straßen im ehemaligen Kreuzberg 61.

Eine Heine-Straße allerdings gibt es nun schon. Sie ist dem Dichter Heinrich Heine gewidmet, an dem sich zeitlebens die Geister schieden. Auf der einen Seite mit Marx und Hegel und den Idealen der Revolution von 1848 bestens bekannt, blieb der Dichter ein überzeugter Anhänger der Monarchie. Ganz anders als sein Namensvetter Gotthold Heine, der stets für die Demokratiebewegung kämpfte und im Kugelhagel ums Leben kam, nachdem die Truppen des Königs die Barrikade in der Königstraße gestürmt hatten.

Gotthold Heine war nicht nur eines der ersten, er war auch eines der prominentesten Opfer im historischen Straßenkampf: Heines Bruder war ein angesehener Professor, seine Schwester hatte in die Familie der Mendelssohns eingeheiratet. Dementsprechend erhielt er ein Grab in erster Reihe auf dem Friedhof der Märzgefallenen und wurde allen Mitstreitern voran zu Grabe getragen. Zu einer Ikone des Widerstandes wurde er allerdings nicht, im Gegenteil: Er wurde schnell wieder vergessen, auch wenn der Wert seiner wissenschaftlichen Arbeiten und seiner aufwendigen Recherchen in spanischen und portugiesischen Klöstern zu den Reformationsbewegungen und einem internationalen Demokratieverständnis unbestritten ist.

Photo: Wikimedia
(Photo: Wikimedia) Noch 1967 wurden seine Dokumente zur Geschichte Karls V., Phillip II. und seiner Zeit aus spanischen Archiven noch einmal neu herausgegeben. Sie beweisen, wie modern Heine gedacht hatte und wie aufgeschlossen er den Idealen der Märzrevolution gewesen war. Politischen »Fortschritt« sah Heine nur in Form einer demokratischen Gesellschaft, in der jeder Bürger die Wahl eines »freien Standpunktes« haben könne. Im Dezember 1998 erinnerte Heinz Warnecke in der Berlinischen Monatsschrift an den Denker und Historiker und schrieb, dass seine Recherchen die »in der europaweiten Demokratiebewegung engagierten Frauen und Männer daran erinnert« hätten, dass die Reformationsbewegung die gleichen Ziele verfolgt habe wie sie: Einen gemeinsamen und »freien Standpunkt und Fortschritt der Völker und Staaten Europas.« Heine war einer der ersten Europäer.

Hätten die Kugeln ihn nicht vorzeitig aus dem Leben gerissen, er wäre womöglich einer der bedeutendsten Fürsprecher der 1848er Bewegung geworden. Dass er so selten Erwähnung findet, liegt womöglich an den ungeklärten Todesumständen Heines, denn es gibt keinen Beweis dafür, dass Heine aktiv an den Kämpfen beteiligt war. Im Gegenteil berichtet ein Zeitzeuge, dass es zu einer wilden Schießerei an der Ecke zur Poststraße kam, und dass »in dem bekannten Speisehause von Gosch und dem gegenüberliegenden Eckhause des nicht minder bekannten Major Preuß entsetzlich gewütet worden war. Dort hatte man einen fremden, durchaus unbeteiligten Gast am Billard niedergeschossen...«

Die Polizeiakten hielten fest, dass der Wirt des Lokals mit dem Kellner nach der Schießerei bei den königlichen Offizieren vorstellig geworden war und sich lautstark darüber entrüstet hatte, »dass die Soldaten seine unschuldigen Gäste totgeschossen« hätten. Leutnant Meyerdink allerdings, der an der Seite Puttkamers die königlichen Truppen leitete, gab zu Protokoll, Heine habe, von einer Kugel getroffen, bereits unter dem Billardtisch gelegen, als man den Raum stürmte. Es sei schon vor dem Eintreffen der Königstruppen zu einem Schusswechsel gekommen, und es sei vollkommen unsicher, ob Heine durch die Schüsse von Soldaten oder etwa durch eine verirrte Kugel der Barrikadenkämpfer gestorben sei.

Sicher ist, dass der Tod eines angesehenen Bürgers aus bestem Hause den Verantwortlichen peinlich gewesen sein muss. Ebenso wie es den Angehörigen des Ermordeten unangenehm gewesen sein muss, dass einer der Ihren mit dem gemeinen Volk gemeinsame Sache machte. Das Interesse an einer Aufklärung der genauen Todesumstände dürfte nicht sehr groß gewesen sein, es blieb offen, ob Heine, wie der Wirt des Gasthauses zu Protokoll gab, als Unbeteiligter am Fenster die Geschehnisse verfolgte, oder ob er anstatt des Qeues nicht doch ein Gewehr in der Hand hielt, als der Schuss ihn traf?

Mitspieler am Billardtisch tauchen nirgends in den Akten auf, ebensowenig wie revolutionäre Mitstreiter, mit denen Heine Seite an Seite gekämpft haben könnte. Es fehlen die Zeugen, und so ist bis heute ungklärt, ob der Tote aus der ersten Reihe auf dem Friedhof der Märzgefallen ein Revolutionär oder ein Zivilopfer war. •

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