Kreuzberger Chronik
Oktober 2019 - Ausgabe 213

Mühlenhaupts Erinnerungen

Wie Märchen zu seinem Namen kam


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von Kurt Mühlenhaupt

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Es ist ein paar Jahre her, daß Märchens Mutter für meine Schweine Kartoffelschalen sammelte und zu mir an den Wagen brachte. Zu dieser Zeit hieß er noch Artur Rake und streichelte ab und zu mein Pony. Damals waren es die kleinen Leute, die mich ernährten. Von der Kunst konnte ich nicht leben. (...) Das war der Grund, weshalb ich Trödler und Kneipenwirt wurde. Frau Rake kam wieder zu mir. Wie Mütter so sind, drehte sich alles um Artur. Sie erzählte, daß er auch malt.

»Aber in letzter Zeit dreht er das Karussell und arbeitet auf dem Rummel. Da ist er doch wenigstens wieder zuhause!«, sagte die alte Frau, die das mit sich herumschleppte, was andere einen Buckel nennen. Sie war unheimlich lieb und gleichzeitig interessant. Ihre Augen blitzten bei jedem Wort, in ihrem Gesicht zeigten sich unendlich viele Falten. Der Kopf war für ihren Körper viel zu groß, aber sie paßte ins Milieu. Ihr Artur hat sehr gelitten, weil andere Kinder ihn hänselten. Kinder können grausam sein. Die Mutter legte also ein gutes Wort für ihn ein.

Zwei Tage nach diesem Gespräch kam er zu uns. Wir mußten uns alle erst mal zusammenraufen. Er war ganz anders, als ich es mir vorgestellt hatte, denn Künstler sind Mimosen. Wir waren alle überempfindlich.

Artur Rake hockte schon den dritten Tag im Leiterkasten, und zwar nicht weit von der Tür. Die Angst war ihm ins Gesicht geschrieben. Er redete mit keinem von uns. Am dritten Abend holte er seine alte Mandoline heraus und klimperte ein bißchen darauf herum. Dann erzählte er uns eine wundersame Geschichte von einer alten Spieluhr. Die war so schöne, daß Rosi ihm einen Topf Bier dafür hinstellte. Dann fragte sie:


»Wie heißt du?« - »Ich bin der Artur!« - »Quatsch!«, sagte sie, »du kannst so schön erzählen, darum taufe ich dich auf den Namen Märchen.«


So kam er zu seinem Namen und hieß von nun an nur noch Märchen. Ich wußte von seiner Mutter, was er sonst noch alles tat. Hier im »Leierkasten« war er unser Märchenerzähler. Er steigerte sich, bis er zitterte, bis er innerlich verglühte. Auch dafür brauchte er Zuschauer. Genausogut aber konnte er auch fuchsteufelswild werden. Wenn seine Liebe in Hass umschlug, hatte der Betroffene nichts zu lachen. Dann griff er sich, was er greifen konnte, auch wenn es sein liebstes Stück, die Mandoline war, und schlug sie dem anderen auf den Kopf, so daß sie in tausend Stücke zersprang. Man muß wissen, eine ita-lienische Mandoline ist aus vielen Tausend Teilen zusammengesetzt.

Entnommen aus Kurt Mühlenhaupt, Nächte m Leierkasten, mit freundlicher Genehmigung von Hannelore Mühlenhaupt

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