Kreuzberger Chronik
Juli 2019 - Ausgabe 211

Kreuzberger
Khalid Bensghir

Jeder Mensch hat seine Geschichte


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von Hans W. Korfmann

Titelfoto: Leo Leander

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Jeder Mensch hat seine Geschichte, aber diese ist ein bisschen verwirrend. Sagt Khalid Bensghir, ein Mann, dessen Alter schwer einzuschätzen ist, der 30 oder 60 Jahre alt sein könnte, in Jeans und kariertem Hemd, mit einem schmalen Gesicht, kurzen Haaren und lebhaften Augen. Augen, die auf der Suche zu sein scheinen, keinen Ruhepol finden, keinen einzigen Ort, an dem sie innehalten könnten. Khalid Bensghir sitzt an einem Tisch im leeren, regennassen Garten eines Lokals, vor sich ein Bier und sein Handy, dessen kleiner Bildschirm ein Video von einem lehmfarbenen Hügel zeigt, auf dem kein Strauch und kein Baum wächst, auf dem es kein bisschen Grün, nur einen unendlich blauen Himmel darüber gibt. Vor diesem Hügel stehen ein Polizeijeep und drei Pickups, Männer sind in Streit geraten, drohen mit Stöcken, schreien sich an, flehen zum Himmel, packen einander am Hemdkragen. Die Polizisten mit ihren finsteren Sonnenbrillen sind machtlos.

Das Handy zeigt Bilder seiner alten Heimat. Seine neue Heimat ist Berlin. Obwohl er ursprünglich nach Amerika wollte, dorthin, wo bereits drei seiner Schwestern und sein Vater lebten. Die Green-Card lag für ihn bereit, von einem Studium war die Rede, aber dann kamen ein paar Hippies nach Souk el Arban du Gharb, dem Dorf in der fruchtbaren Ebene am Fuß des Rif-Gebirges im Norden Marokkos. Unter ihnen war Ingrid, eine rothaarige Studentin aus Oldenburg. Sie verstanden sich gut, verbrachten einen ganzen Monat miteinander, und die Verbindung brach auch dann nicht ab, als sie zurück nach Deutschland fuhr. Sie schrieben sich lange Briefe, telefonierten. Trotzdem dachte Khalid nie daran, nach Deutschland zu gehen. Bis eines Tages seine Mutter aus dem Dorf anrief und sagte: »Ingrid ist da!«

Ingrid war gekommen, um ihn abzuholen. Er sei zu schade für die Wüste, er müsse nach Deutschland, da könne etwas aus ihm werden. Also kam Khalid 1988 nach Deutschland, zuerst nach Bösel, später nach Berlin. Alle wollten nach Berlin, »weil Berlin damals so eine spannende Stadt war«. Sie verstanden sich gut, aber als Ingrid schwanger wurde, überredeten die Eltern sie zur Abtreibung. Sie sei noch zu jung, sie müsse erst einmal ihr Studium beenden. »Die Eltern wollten mich nicht!«, sagt Khalid. 27 Jahre später haben Ingrid und Khalid sich wieder getroffen und noch einmal über alles geredet. Ganz vergessen hatte sie Khalid wohl doch nie.

Khalid war jetzt allein in Berlin, ohne die große Familie, die in alle Welt verstreut war: Drei Schwestern und ein Bruder in Amerika, eine Schwester in Abu Dhabi, ein Bruder in der Schweiz, und die Mutter, die allein in dem Dorf hinter dem Rif-Gebirge zurückgeblieben ist. Aber Khalid fühlte sich wohl in Berlin, er fand neue Freunde, begann, Musik zu machen. Obwohl er nie ein Instrument gelernt hatte, wollten alle mit ihm spielen, Rashidii, der mit der Gitarre vor der Marheinekehalle stand, Anuvida, der in der Gelben Villa Musikworkshops veranstaltete. »Wenn irgendwo ein Ton rauskam, dann hab ich Musik daraus gemacht!«, sagt Khalid. Und deshalb dauerte es nicht lange, da war aus Khalid »Kalle« geworden.

Kalle lernte nicht nur Musiker, sondern auch andere Künstler kennen. Anfang der Neunzigerjahre vermittelte die BBJ den jungen Mann an eine Architektin, die gerade einen technischen Zeichner suchte. Sie bat den Marokkaner: »Zeichne mir doch bitte mal deine Wohnung auf!« Als Kalle ihr am nächsten Tag den Grundriss seines bescheidenen Domizils in der Manteuffelstraße zeigte, war sie überzeugt, den richtigen gefunden zu haben. »Drei Tage später hab ich meinen ersten Plan gezeichnet, und der wurde genehmigt!« Aber eines Tages heiratete die Architektin einen reichen Schweizer, Khalid musste sich einen neuen Chef suchen.

Er begann bei einem Büro in der Admiralstraße, dann zeichnete er für Ulrich Jasper, »das war ein pfiffiger Architekt, mit dem ich mich gut verstanden habe und bei dem ich auch richtig was gelernt habe.« Kalle hatte es nicht mehr mit kleinen Bauernhäusern in Marokko zu tun, er beschäftigte sich jetzt mit Villen in Potsdam und Häusern in Hamburger Straße, 2001 mit dem Restaurant Langhans in der Charlottenstraße. Zusammen mit den Künstler Jakob Mattner sollte Kalle für Innenausstattung und Beleuchtung sorgen.

Offensichtlich waren auch die Mitarbeiter des Innenministeriums dort zum Essen, jedenfalls erhielten Jakob und Kalle den Auftrag, das Treppenhaus des Ministeriums zu beleuchten. Da das Tageslicht nur durch eine kleine Dachluke fiel, leiteten sie es durch die Installierung von verspiegelten und verstellbaren Segeln bis zum Sockel der Treppe. »Darauf bin ich heute noch stolz!«, sagt Khalid. Auch in einem Treppenhaus in Hamburg montierten sie insgesamt 36 Lichtsegel. Jakob Mattner, »war ein richtiger Künstler! Nicht nur so einer, der glaubt, ein Künstler zu sein.«

Mattner brachte ihn auch zur Gelben Villa an der Methfesselstraße, in der Kinder aus der ganzen Stadt und aus den verschiedensten Kulturkreisen Musik machten, Mode entwarfen, malten, tanzten, Theater spielten, und in der Anuvida gerade die Hausband betreute. Kalle sollte einen Kinder-Workshop für Holzarbeiten leiten. Die Jahre mit den Kindern waren vielleicht die schönsten für Kalle.

Er hatte mit zwei Stunden in der Woche begonnen, aber es dauerte nicht lange, da war er mehrmals in der Woche den ganzen Nachmittag in der alten Villa, um den Kindern das Bohren, Feilen, Leimen und Lackieren beizubringen. »Die Kinder waren glücklich, die Eltern waren glücklich, und ich auch. Das war ein Erfolgstag nach dem anderen für mich.« Seine zwei Lieblinge, die afghanischen Flüchtlingskinder aus der Bastelgruppe, wurden auf einer ganzen Seite im Tagesspiegel porträtiert. Er mochte die Beiden, und sie mochten ihn. Als Kalle wieder einmal für längere Zeit in Marokko war, riefen sie ihn aus der Villa an, er solle doch bald zurückkommen.

Aber es kam der Tag, da Kalle gar nicht mehr in der Villa auftauchte. Schon im Februar des Jahres 2000 war die Nachricht aus Amerika gekommen, dass Kalles Vater gestorben war. Er hatte seinen Sohn Khalid damit beauftragt, sich um die Erbschaft zu kümmern. An diesem Tag im November des Jahres 2000 veränderte sich sein Leben. Der junge Marokkaner, der so gut in Deutschland Fuß gefasst hatte, der seit vielen Jahren in der Gneisenaustraße wohnte und jeden in der Straße kannte, der eine neue Heimat gefunden hatte, war wieder heimatlos, pendelnd zwischen hier und dort.

Mit dem Tod des Vaters wurde aus Kalle wieder Khalid. Er arbeitete sich durch Berge von Dokumenten, Urkunden, Plänen und Landkarten, die ihm wie Schatzkarten vorkamen, weil sie belegten, dass sein Großvater, Si Bouselam Bensghir, ein berühmter und sagenhaft reicher Mann gewesen war, der Tausende von Hektar und »eine eigene Armee mit 3000 Mann« besessen hatte. Khalid hatte nichts von alledem geglaubt, was die Leute im Dorf und die Familienmitglieder erzählt hatten. Jetzt verstand er, dass sein ausgewanderter Vater ein Leben lang vergeblich um diese Länder gekämpft hatte, die der Enteignung zum Opfer gefallen waren. Und dass Khalid diesen Kampf weiterführen sollte.

Seitdem liest er sich durch Aktenberge, ist immer tiefer in dieses Labyrinth alter Karten vorgedrungen, findet tagelang den Weg nicht mehr heraus, zieht sich ganz in seine Wohnung zurück, »den Kühlschrank voll mit Essen für vier Tage.« Er durchstöbert französische Zeitungsarchive, die Nationalbibliothek, das Ethnologische Museum in Dahlem, die Katasterämter in Marokko. Er fliegt nach Rabat, fährt von einem Amt zum nächsten. »Es geht um Millionen!«

Sieben Anwälte hat er beauftragt, hunderte Anfragen und Briefe geschrieben, die nie beantwortet werden. Er steht vor schweigenden Richtern und vor verschlossenen Türen. Vor Bauern, die mit Knüppeln drohen. Vor lehmigen, nackten Hügeln unter einem trostlosen, endlos blauen Himmel.

Khalid Bensghir ist zu tief in diese Geschichte vorgedrungen. Er hat in einer Zeitung vom 4. Mai 1911 ein Bild von der Armee seines Großvaters erkannt, sein weißes, legendäres Maultier, das fruchtbare Land, aus dem »das Wasser drei Meter hoch« sprudelte. Er kann nicht mehr aufgeben. Er denkt daran, sich einen Teppich zu kaufen und vor den königlichen Palast zu setzen. So wie Gandhi. »Ich werde kämpfen bis zum Tod!«, sagt Khalid. Er meint das ernst. •


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