Kreuzberger Chronik
September 2017 - Ausgabe 192

Strassen, Häuser, Höfe

Die Flottwellstraße


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von Werner von Westhafen

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Sie liegt am westlichen Rand des Gleisdreiecks,
Vielleicht ist es die Nähe zum Wasser des Landwehrkanals, vielleicht die in seinem Namen versteckte »Flotte« in Kombination mit der »Welle«, die unbedarfte Leser der Kreuzberger Landkarte daran denken lässt, Flottwell könne einer jener wenigen Seefahrer sein, die den Straßen in Kreuzberger Ufernähe ihren Namen gaben: Brommy etwa, oder die Admiralstraße.

Doch Eduard Heinrich von Flottwell hatte mit der See nicht viel zu tun, allenfalls fuhr der Beamte zur Erholung von seinem Schreibtisch im Sommer an die Ostsee. Flottwell scheint nicht so recht zu passen in die Gesellschaft der umliegenden Straßennamensgeber, die sich eher auf militärische Persönlichkeiten wie Lützow, Pohl oder Blücher stützen, während Flottwell selbst allenfalls ein Schreibtischtäter, wenn nicht ein ganz und gar friedvoller Zeitgenosse war.


Foto: Dieter Peters
Auch die Flottwellstraße selbst mit ihren Wohnbetonkuben aus dem Jahre 2016 wirkt eher wie ein Fremdkörper in der Stadtlandschaft rings um das alte Gleisdreieck mit dem weithin sichtbaren Wahrzeichen der schmiedeeisernen Brücke, die sich souverän und in scheinbarer Schwerelosigkeit einst quer über die Gleisanlagen des Anhalter Bahnhofs und heute mitten durch den Park von den alten Häusern im Osten zu den neuen Häusern im Westen schwingt. Auch dieses so viel gefilmte, fotografierte, auf unzähligen Postkarten abgebildete Bauwerk soll nun aus dem Stadtbild entfernt und durch eine schmucklose Betonbrücken ersetzt werden. So verliert Berlin allmählich sein Gesicht. Was die Kriegsmaschinen nicht zerstörten, zerstören die Maschinen der Immobilienhändler, und auch die brennenden Automobile vor den Häusern der Neuberliner in der Flottwellstraße werden den Lauf der Zeit nicht aufhalten.

Als Eduard Heinrich von Flottwell das Licht der Welt erblickte, war das spätere Gleisdreieck noch eine große Wiese vor der Stadt. Man schrieb das Jahr 1786, als Eduard im noch fernen, zwei Tagesreisen mit der Kutsche entfernten Insterburg in Ostpreußen geboren wurde. Schon sein Vater war ein leidenschaftlicher Bürokrat, wenn auch als Kriminaldirektor und späterer Justiz-Kommisssarius mit einer gewissen Neugierde und Abenteuerlust ausgestattet. Freilich sollte Heinrich in des Vaters Fußstapfen treten, weshalb man ihn zunächst auf das Gymnasium nach Tilsit schickte, wo er nicht nur ein gewisses Faible für den heimischen Hartkäse, sondern auch für die Philosophie entwickelte. Als er nach den ersten Schuljahren in Tilsit zum Studium der Rechtswissenschaften nach Königsberg zog, nutzte er die freien Stunden dazu, die Vorlesungen bei Professor Immanuel Kant zu besuchen, der sich seinerzeit nicht nur der Kritik der reinen Vernunft widmete, sondern ein erstaunlich breit gefächertes Spektrum an Fächern anbot. Kant galt als ein Meister der Logik, der Metaphysik und der Moralphilosophie, er unterrichtete Natürliche Theologie, Mathematik, Physik, Mechanik, Geografie, Anthropologie, Pädagogik und Naturrecht. Egal, worüber Immanuel Kant dozierte, seine Vorlesungen waren bis zum letzten Rang gefüllt. Der Dichter Johann Gottfried Herder schrieb später: »Seine Philosophie weckte das eigne Denken auf, und ich kann mir beinahe nichts Erleseneres und Wirksameres hierzu vorstellen, als sein Vortrag war.«

Ein Jahr nach Kants Tod im Jahre 1804 trat Flottwell beim Oberlandesgericht in Insterburg als Jurist den Vorbereitungsdienst an und wurde 1808 beim Oberlandesgericht Königsberg zum Assessor berufen. Vier Jahre später ist er Regierungsrat, 1816 Geheimer Regierungsrat und 1825 Regierungspräsident. Seine Karriere ist steil, aber nicht geradlinig, sein Leben ein wilder Slalomlauf durch unterschiedlichste Institutionen und die verschiedensten preußischen Städte und Provinzen. Flottwell lebt und arbeitet in Posen, Gumbinnen, Danzig, Marienwerder, Westfalen, Frankfurt, Brandenburg, Potsdam und Berlin, er bekleidet, wenn oft auch nur für wenige Monate, Ämter wie das des Regierungsrats oder des Geheimen Regierungsrats, er avancierte zum Oberregierungsrat, zum Oberlandesgerichtsrat, zum Oberpräsidialrat oder zum Oberpräsidenten, bis Friedrich Wilhelm IV. dem Oberen sogar den Titel des »Wirklichen Geheimenrates mit Prädikat Excellenz« verlieh, mit der Eduard Heinrich Flottwell zugleich den »Roten Adlerorden 1. Klasse mit Eichenlaub« an seine Brust heften durfte.

Derselbe König machte ihn sogar zum Staats- und Finanzminister, aber Flottwell hielt es auch auf diesem Posten nicht sehr lange aus, sondern kündigte nach zwei Jahren, um zunächst Oberpräsident von Westfalen, dann Oberpräsident von Brandenburg zu werden. Er ist bereits 74 Jahre alt, als ihn der König abermals zum Minister macht. Diesmal ist es sogar der Posten des Innenministers, aber seine Exellenz bleibt nur einige Monate auf dem Sessel, es zieht den alten Mann ganz offensichtlich zurück ins etwas gemütlichere Potsdam. Nach Berlin kommt er nur noch einmal in der Woche, aber der Berliner Adresskalender verzeichnet 1851 exakt, wo und wann genau man den umtriebigen Beamten erreichen kann: »Se. Exc. der Herr Oberpräsident, Geheimer Staatsminister Flottwell, ist jeden Donnerstag in Berlin anwesend, und dann am sichersten um 11 Uhr vormittags im Lokale des Provinzial-Schul-Kollegiums anzutreffen.«

Erst 1862 zieht er sich gänzlich aus der Verwaltungspolitik zurück und setzt sich am Schöneberger Ufer 14 zur Ruhe. Als der alte Beamte drei Jahre später fast achtzigjährig stirbt, erhält eine kleine Straße in der Nähe seinen Namen. •



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