Kreuzberger Chronik
Juli 2016 - Ausgabe 181

Dieter Peters Kreuzberger
Gino Merendino

In Kreuzberg spielt die Musik


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von Hans W. Korfmann

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Gino hat wenig Zeit, er probt jeden Tag, von 9 bis 12. Gino hat hunderte, vielleicht tausende von Auftritten hinter sich, aber dieser ist etwas ganz Besonderes: Gino wird, nach sehr vielen Jahren, wieder einmal in Kreuzberg auftreten. »Ich war immer fasziniert von Kreuzberg, ich fühle mich hier zuhause, ich komme jeden Tag hierher, nur um Espresso zu trinken. In Kreuzberg spielt die Musik.«

Genau ein halbes Jahrhundert ist es her, da eröffnete Gino einen Imbiss in der Blücherstraße. 12 Jahre später das La Boheme in der Nostitzstraße. In Kreuzberg ist er eine italienische Legende, alles an ihm ist echt, die Goldzähne, das letzte, die Glatze kaum verbergende Haar, das Lachen, die Geschichten. Mit dem Strohhut auf dem Kopf, dem Witz und der Musik im Herzen verkörpert er das Klischee des kleinen Sizilianers, und egal, welche Seite er in dem dicken Kalender seines Lebens aufschlägt, ob es dieser Samstag im Oktober des Jahres 1945 ist, an dem die Schwester heiratete, oder der 5. Oktober 1990, als Christine plötzlich vor ihm stand: Sofort fällt ihm eine Geschichte ein, zu der ihm gleich noch eine einfällt, an die sich die nächste reiht, bis er innerhalb einer Stunde ein ganzes Jahrhundert und halb Europa durchreist hat. Sein Leben ist eine Kette kleiner Erzählungen, und immer gehört irgendein Lied zu diesen Geschichten, das Lied vom sonntäglichen Eisessen, oder das Lied von Christine und der Lebenslust, »voglia, voglia di vivere...« Und ganz egal, wo er diese Geschichte auch gerade erzählt, ob er an der lauten Bergmannstraße oder am stillen Genfer See sitzt: Er beginnt zu singen. Und sobald die ersten italienischen Silben erklingen, beginnt er zu strahlen, als wäre er noch ein kleiner Junge, als wäre dieses Lied, das er gerade singt, ein Weihnachtsgeschenk, auf das er schon lange gewartet hat.

Schlagen wir den 20. August 1990 auf, jenen Tag, als Gino nach vielen Jahren wieder auf dem Platz in Bisacquino steht und Musik macht. Sie sagen Luigino oder Gino, obwohl Luigi längst erwachsen ist, aber sie sehen immer noch diesen achtjährigen Jungen, der den ganzen Tag hinter den Kühen des Vaters herlaufen musste, weshalb er in der Schule keiner von jenen zu sein schien, die einmal in die Annalen des Dorfes eingehen würden. Aber als er an diesem 20. August 1990 wieder auf dem Dorfplatz stand und spielte, »da fingen sie schon nach der Hälfte des Stückes an zu applaudieren, 2000 Menschen auf dem Platz« , den Gino noch kennt aus Zeiten, als dort noch keine Kathedrale stand, als dort noch gar nichts war. Nach dem Fest kamen sie, um ihm die Hand zu reichen, sie hatten Luigino nie vergessen, seit diesem Samstag im Oktober des Jahres 1945, als der kleine Junge auf der Hochzeit seiner Schwester einfach auf Salvatore Ragusa zugegangen war und gefragt hatte, ob er einmal probieren dürfe. Salvatore, der Geiger, nickte, und da stand plötzlich der kleine Gino mit der Geige in der Hand auf der Bühne. Und Salvatore, der später ein berühmter Professor wurde, sagte: »Du hast Talent. Ich werde dich unterrichten!« Fortan sah man Gino, umschwärmt von Fliegen, mit Notenblättern in der Hand über die Wiesen hinter den Kühen herlaufen. Zwei Jahre lang übte er so vor sich hin, »Do Re Mi Fa So...« , die Hügel und die Tonleitern rauf und runter. Er schnitzte sich eine Flöte, studierte das Buch, das Salvatore Ragusa ihm geschenkt hatte, und träumte von einem Leben als großer Musiker.

Dieser Hochzeitstag seiner Schwester 1945 könnte das erste Blatt in dem dicken Tagebuch des Musikers Merendino sein, das nie geschrieben wurde. Obwohl die Geschichte des Akkordeonspielers natürlich schon viel früher beginnt, mit Guiseppe, Ginos Vater, der auch schon »ziemlich gute Ohren hatte« und ein talentierter Musiker war. Oder noch eine Generation früher, irgendwo in Louisiana, 1895, »wo die Häuser noch aussahen wie im Wilden Westen«, und wo Guiseppe, der gerade acht geworden war, den Arbeitern auf der Zuckerrohrplantage nachmittags Wasser brachte, weil es heiß war wie in Sizilien. Schon damals hatte Guiseppe immer eine Mundharmonika in der Hosentasche, und obwohl der kleine Wasserträger kaum Lohn vom Zuckerbaron bekam, träumte er von einem Organetto, einem eigenen Akkordeon. Eines abends, der Junge war inzwischen 13 Jahre alt, schlich er sich aus dem Haus, um das Nachtleben im Dorf zu erkunden. Als der Vater den Ausreißer entdeckte, versprach er ihm ein Organetto, wenn er abends im Haus bliebe. Diese Anekdote ist so etwas wie das Präludium zum Leben des Gino Merendino.

Im Yorckschlösschen, 2016, Foto: Cornelia Schmidt

Ginos Vater ist 95 Jahre alt geworden, bis zuletzt hat er von Amerika erzählt. Wie sie auch dort von der Mafia verfolgt wurden - Ginos Stimme wird noch heute leise, wenn er das Wort Mafia ausspricht - und wie der Großvater Geld und Schmuck im Garten vergrub, und wie sie eines Tages – Ginos Vater hatte längst einen Bart und spielte mit seinem Akkordeon zum Tanz auf - beschlossen, zurückzukehren nach Italien, um die ersparten Dollar in Ackerland zu verwandeln. An dieser Stelle stimmt Gino das Lied der Auswanderer an, das Lied von den armen sizilianischen Bauern, die alle den gleichen Traum träumen: den Traum von eigenem Land und eigenem Vieh.

Für das Akkordeon war eigentlich kein Platz mehr auf dem Schiff über den Atlantik, aber Guiseppe schmuggelte es heimlich an Deck. So kam das Instrument nach Sizilien, und so kam es, dass Ginos Vater an den Wochenenden mit den Barbieren von Bisacquino zum Tanz aufspielte. »Die meisten Musiker waren nämlich Barbiere, die Barbiere hatten die ganze Woche über nichts zu tun, die Leute kamen ja immer nur am Freitag zum Rasieren, und deshalb hatten sie alle irgendein Instrument in ihren Frisiersalons, um sich die Zeit zu vertreiben.« Auch Guiseppe hätte ein Berufsmusiker werden können, aber eines Tages verliebte er sich in ein Mädchen, das erst fünfzehn, aber viel zu schön war. Er konnte nicht warten und heiratete sofort, um sein Leben auf Getreidefeldern und Vieweiden zu verbringen, um in dem kleinen Landhaus mit seinen »meterdicken Mauern« zu schlafen, hinter denen zehn Kinder geboren wurden, das letzte von ihnen am 18. November 1933: der kleine Luigi. Der Gino von Kreuzberg.

»Ich muss viel proben, jeden Tag...«, sagt Gino und lacht. 82 ist er jetzt, aber er hat viel zu tun. Schon der Großvater, der nach Amerika ausgewandert war, wurde 78 Jahre alt, der Vater beinahe 100. Und Gino war 70, als er vom Tastenakkordeon auf das Knopfakkordeon wechselte. Er war neugierig. Auf den Tasten hatte er Bach, Chopin, Mozart gespielt, er scheute vor nichts zurück, aber mit den Knöpfen musste er wieder bei der Tonleiter anfangen, so wie damals, hinter den Kühen, »jeden Tag vier Stunden üben!« Die Tasten waren groß gewesen, die neuen Knöpfe winzig klein, ständig griff er daneben, »da musst du immer wieder die gleiche Phrase spielen, immer wieder!« Und weil es so lange dauerte mit dem Lernen dieses neuen Instruments, erlaubte er sich nach den Übungen zur Entspannung »eine Stunde mit dem Tastenakkordeon.«

»Man hört nie auf zu lernen!«, sagt Gino und blättert noch einmal weit zurück im ungeschriebenen Buch seines Lebens, bis zu jenem Tag im Juli des Jahres 1948, an dem er neidisch wurde, weil sich Vincenzo, der große Bruder, ein Akkordeon gekauft hatte, »ein großes, glänzendes, ganz schickes Instrument.« Die 20.000 Lire hatte ihm die Tante geliehen, die gerade ihre Getreidemühle verkauft und etwas Geld übrig hatte. Der Kauf war eine gute Investition für die Familie Merendino, denn nicht nur Vincenzo lernte das Akkordeonspiel, auch der kleine Gino schlich sich eines Tages in das Zimmer seines Bruders »und fummelte ein bisschen an dem Ding herum. Meine Mutter kam herein und schlug die Hände über dem Kopf zusammen, dieses teure Instrument, mach das bloß nicht kaputt!« Immer wieder schlich er ins Zimmer, versteckte sich mit dem Akkordeon in irgendeinem Winkel und übte. Bis dieser Tag kam, an dem der Bruder selber tanzen gehen wollte, und an dem der kleine Bruder zum großen Bruder sagte: Geh ruhig tanzen, ich kann dich vertreten. »Vincenzo wunderte sich: Was, du kannst spielen? - Na klar kann ich spielen!« Und so kam es, dass Gino mit seinem Vater zum Tanz spielte.

Aber die warmen Nächte der italienischen Dorffeste waren lang, der kleine Gino schlief montags in der Schule ein, und auch der große Bruder klagte: »Jede Nacht bis um drei Uhr spielen, da nehme ich lieber die Hacke und gehe in den Berg.« Es waren schwere Zeiten, Sizilien verdorrte unter der Nachkriegssonne, in den windstillen Tälern stieg das Thermometer auf 50 Grad, und die Tage waren 18 Stunden lang. Es war die Hölle, kein Windstoß schien die Seiten des Kalenders weiterzublättern, selbst die Zeit stand still, bis plötzlich der 23. September 1948 kam, jener Tag, am dem die Baronesse in der steinernen Hütte der Merendinos auftauchte und Ginos Vater fragte, ob sein Sohn nicht als Butler ins Haus der Baronesse kommen könne. Der Vater zögerte nicht lange, Luigino aber stellte eine Bedingung: »Nur, wenn ich Klavier spielen darf!«

Tatsächlich hatte die Baronesse nicht nur einen Koch, ein Dienstmädchen und ein Auto, sondern auch ein Klavier, und wenn Luigi nicht gerade mit weißen Handschuhen, weißem Hemd und schwarzem Gilet die Gäste im Garten bediente und das Silberbesteck auflegte, dann saß er vor den schwarz-weißen Elfenbeintasten. Alles war ganz wunderbar, bis die Baronesse eines Tages beim morgendlichen Ankleiden vergaß, die Türe zu schließen, und Luigi sie nackt im Zimmer stehen sah, woraufhin die Adlige dem Bauernsohn vorwarf, sie heimlich be- obachtet zu haben. Wenn Gino von diesem Tag erzählt, dann verfällt er vor lauter Aufregung noch heute ins Italienische und beteuert seine Unschuld, als stünde er vor dem Jüngsten Gericht. Erst wenn er sich daran erinnert, wie er am nächsten Tag zum Nachbarn mit der Garage lief, um nachzufragen, ob er nicht Autos für ihn putzen könne, findet er die deutschen Worte wieder. Stolz kündigte der junge Sizilianer die Stellung als Butler, wusch und polierte fortan die feinen Karossen der feinen Herrschaften und lernte mit fünfzehn das Chauffieren. Nebenbei aber ging er aufs Konservatorium und setzte sich ans Klavier. Vier Jahre, bis zum Sommer 1953, studierte er in Palermo Musik, dann zwängte man ihn in die Uniform. Doch selbst in der Kaserne von Messina stand ein Klavier, Gino spielte im Militärclub für die Soldaten und ihre vorübergehenden Bräute. Doch die Musikerkarriere ließ noch auf sich warten. Wieder unter den Zivilisten, muss Gino die Maurerkelle in die Hand nehmen, um zu überleben, nur abends zieht er durch die Clubs und die Strandbars von Palermo, wo er die verschiedensten Musiker kennenlernt.

Das älteste Bild aus Ginos Zigarrenkiste: Ein Auftritt 1958

Und dann endlich kommt jener Tag, an dem ihn ein Schlagzeuger fragt: »Gino, willst du nicht nach Genf gehen? Da spielen Freunde von mir, die brauchen einen Pianisten.« Am 29. März 1960 steht der kleine Sizilianer mit seinem Akkordeonkoffer in Genf. Der Vertrag platzt, Gino hat kein Geld und muss als Tellerwäscher in einem Hotel in den Bergen anfangen, aber eines Abends fragen ihn die anderen, ob er nicht mitkommen wolle in die Stadt, sich ein bisschen amüsieren. »Damals gab es eine Straße in Genf, da hing in jeder Kneipe ein Akkordeon, da konnte man überall hingehen und spielen. Am Ende des Abends hatte ich 40 Franken Trinkgeld in der Tasche, 40 Schweizer Franken! Das war ein Vermögen!«

Gino mit Palmen und der Combo Complesso, Palermo, 1959

Allmählich beginnt die Perlenkette der Geschichten zu funkeln. Gino zögerte keine Sekunde, als man ihm ein Engagement für sechs Monate anbot. Zwei, drei Jahre lang zog er durch Genf, lernte Französisch, spielte Klavier und Akkordeon, spielte Walzer und Tango, Tarantella und Bossa Nova. Er wohnte in einem kleinen Ort nicht weit von der Stadt, hatte ein Auto, viele Freunde, und ein paar Monate lang sogar eine Freundin, bei der er wohnte. Er hat nie Tagebuch geschrieben, ihren Namen nie aufgeschrieben, er tippt nur kurz mit dem Finger an die Schläfe: Sie sind alle noch da, die Namen und die Zahlen. Und immer weiß er, wieviel er damals verdiente. »In Genf bekam ich 15 Schweizer Franken am Tag. Dazu kam das Doppelte an Trinkgeld.«

Gino war jetzt Musiker. Und Musiker bleiben nicht in kleinen, schattigen Alpentälern zurück, sie wollen in die großen, hellen Städte. Am 18. April des Jahres 1963 trank Gino Merendino mit ein paar italienischen Musikern seinen Espresso in der Bar Campari, nicht weit von der Hamburger Reeperbahn. Weil Pianisten Mangelware waren, und weil die kleinen Italiener in den Sechzigerjahren noch exotisch genug waren, um mit barbusigen Damen zu konkurieren, stand Gino schon bald auf der Bühne, spielte in Hamburg, Cuxhaven, Flensburg und Aachen. Seine Monatsgage hatte bereits die 1000-Mark-Grenze überschritten, als eines Abends ein Berliner auftauchte, um sich die Italiener anzuhören.

Er engagierte das Quartett gleich für drei Monate. Das Lokal hieß Box 29 und war nicht weit vom Ku´damm. »Damals gab es vielleicht 100 Italiener in Berlin, vielleicht drei Ristoranti, und eine einzige italienische Band. Das waren wir. Die Leute standen an den Wochenenden Schlange bis auf die Straße.« Eines Abends mischten sich zwei schöne Französischlehrerinnen unter die Gäste, und weil der Schlagzeuger am liebsten sofort von der Bühne auf die Tanzfläche gesprungen wäre, musste Gino nach dem Auftritt dolmetschen. An diesem Abend begann eine der Perlen in der Kette der Geschichten besonders hell zu leuchten: Sie hieß Karin, und es war Sommer, und eines Tages war Karin schwanger.

Man schrieb den 6. August 1966, als Ginos Sohn geboren wurde. Er erhielt den Namen des Großvaters, Guiseppe, und weil Gino einsah, dass ein verantwortungsvoller Familienvater nicht als Musiker durch die Lande ziehen konnte, heiratete er und beschloss, das Musikerleben aufzugeben. Dabei hatte er gerade bei Hanussen II., dem Prominenten-Wahrsager vom Ku´damm, angefangen. Der Nachfolger des berühmten Österreichers hatte »im Grunewald ein Lokal mit Spogliarello« - als stolzer Italiener verzichtet Merendino lieber auf das Wort Striptease - und suchte Musiker. Der Wahrsager fragte, wieviel Gage Gino verlange, und Gino zögerte ein bisschen, bevor er sagte: 1400! Hanussen und sein Bruder warfen sich nur einen kurzen Blick zu und nickten. »Für die Berliner Gastronomen waren gerade die Goldenen Jahre angebrochen!«

Also beschließt auch Gino, ein Lokal zu eröffnen. Am 1. Mai 1966 steht er in Kreuzberg vor der Blücherstraße Nr. 49, wieder mit der Maurerkelle in der Hand. »Der Bogen, den ich gemauert habe, ist heute noch da.« Pizza kannte niemand in Berlin, also verkauft er Spaghetti und Ravioli, Lambrusco und Chianti. Schon nach wenigen Monaten verpachtet er den kleinen Imbiss und verdient Geld, ohne arbeiten zu müssen. Das Leben als Gastronom ist lukrativ, 1970 eröffnet er in Friedenau das Arlekino, drei Jahre später verkauft er es für fast 100.000 Mark und eröffnet auf der anderen Straßenseite die Diskothek La Belle, die am 5. April 1986 in die Schlagzeilen der Weltpresse gerät, weil eine Bombe auf der hauptsächlich von Amerikanern frequentierten Tanzfläche explodiert. Ronald Reagan macht den Revolutionsführer Gadaffi für den Anschlag verantwortlich und schickt seinerseits Bomben nach Tripolis. Ein Krieg beginnt.

Aber damit hat Gino nichts mehr zu tun. Er hat seinen Flügel zwei Jahre zuvor abgeholt, das La Belle längst wieder verkauft, um in der Goertzallee das Casa Nova zu eröffnen, ein gut besuchtes Restaurant. Dann verkauft er auch dieses und geht zurück nach Kreuzberg, um in der Nostitzstraße endlich das La Boheme zu eröffnen. Kreuzberg liegt noch im Schatten der Mauer, die Miete ist günstig, ein halbes Jahr baut er, verstärkt die Wände, verwandelt die alte Wäscherei in ein Lokal mit Bühne und Tresen, schiebt den Flügel hinein und eröffnet am 1. Juli 1978 mit Bergen von Spaghetti, Pizza und Akkordeonmusik und einem alten, singenden Kubaner.


In Ginos La Boheme, Foto: Michaela Küchler, privat

Vom ersten bis zum letzten Tag – 22 Jahre lang - ist Ginos kleines Lokal die Heimat der Kreuzberger Boheme. Ein Ort für jene, deren Leben mehr ist als eine Aneinanderreihung von Werktagen, es ist eine glitzernde Kette unvergesslicher Geschichten. Das 21. Jahrhundert ist angebrochen, am 31. Dezember des Jahres 2000 verkauft Gino auch sein Boheme. Zwei Jahre ruht er sich aus, dann nimmt er das Akkordeon zur Hand. »Früher flogen die Finger nur so über die Tasten, mit einer wunderbaren Leichtigkeit. Aber die Finger sind nicht mehr so elastisch wie früher. Man muss jeden Tag üben, damit sie geschmeidig bleiben, trotzdem bin ich nicht mehr so schnell. Aber Schnelligkeit ist nicht alles, vielleicht hat es jetzt mehr Charakter.«


Im Yorckschlösschen, 2016, Foto: Michael Stachowicz

Ginos Lokale gibt es nicht mehr. Nur die Musik ist geblieben. Sie ist der rote Faden in seinem Leben, die Kette, auf der die Perlen seiner Geschichten aufgezogen sind. Drei Tage sind es noch bis zum 15. Juni 2016, dann wird er in Kreuzberg spielen, da, wo er schon mit Joe Pass, dem Gitarristen des Oscar Peterson Trios stand. Er freut sich wie ein kleines Kind auf Weihnachten. »Mit Musik«, sagt Gino, »kannst du die Leute glücklich machen. Das ist das Wunderbare. Du musst nicht schnell sein, aber wenn du keine Kraft mehr hast, die Leute zum Lachen und zum Tanzen zu bringen, dann ist es Zeit, aufzuhören.«

Vielleicht wird der 15. Juni ja einer dieser unvergesslichen Tage. So unvergesslich wie der 5. Oktober 1990. Alle Gäste des La Boheme kennen die Geschichte, und sie erzählen sie noch heute, als wäre es gestern gewesen: Gino steht hinter dem Tresen, da kommt Christine herein. Er hat Christine noch nie gesehen, aber sie sagt: Papa! Vor ein paar Tagen hatte er einen Anruf erhalten: Ob er Gino Merendino sei, ob er in den Sechzigern in Genf gelebt habe, ob er sich an Clara erinnern könne? Gino hebt die Schultern, fast verfällt er wieder ins Italienische: »Ich war jung, es war Sommer, sie wurde schwanger.«

Weil Gino stolz und ein Ehrenmann ist, kaufte er Verlobungsringe. Doch eines Tages stand sein Gepäck vor der Tür. Clara warf ihn raus und heiratete einen Deutschen, mit dem sie vier große, blonde Söhne zeugte. Claras Tochter aber war klein und schwarzhaarig! Immer wieder hatte sie nach ihrem Vater gefragt, wer er gewesen, wo er geblieben sei. Claras Mutter war es gewesen, die eines Tages die traurige Geschichte von dem kleinen Musiker aus Sizilien erfand, den der Vesuv lebendig begraben habe. Doch eines Tages trat die Tochter mit böser Miene auf ihre Mutter zu, zeigte ihr die Fotografie eines kleinen Italieners mit einem Akkordeon und fragte: Wer ist das?

Am 6. Februar 1963 kam Christine zur Welt. Sie ist jetzt 53. Gino ist 82. Aber er hat noch viel vor. Er hat gerade erst Knopfakkordeon gelernt. Sein Großvater wurde 78, sein Vater 95. Das sind 17 Jahre pro Generation. Also müsste der Luigi 112 Jahre alt werden. Ein Lokal wird er wohl nicht mehr eröffnen, er hat Kinder und Enkel, eine Frau und ein Akkordeon. Er wird weiter spielen, auch wenn es nicht mehr so schnell geht wie früher. Vielleicht wird er eines Tages wieder auf dem Platz vor der Kathedrale stehen, in Bisacquino, wo alles begann. Er muss nicht schnell sein. Er muss sie nur glücklich machen. Das ist das Wunderbare. •


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