Kreuzberger Chronik
Mai 2009 - Ausgabe 107

Strassen, Häuser, Höfe

Die Sarottihöfe


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von Werner von Westhafen
Fotos: Dieter Peters


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Vor 150 Jahren erhielt ein Bauer die Erlaubnis, auf seinem Grundstück an der Tempelhofer Straße Nr 3 ein »Wohn-Stall-und Apartmentgebäude« zu errichten. Heute bestaunen Touristen die Hinterhöfe am Mehringdamm

BEVOR DER Kreuzberg zum Viktoriapark wurde, war er ein Weinberg. Dann wurde ein Rummelplatz aus ihm, später ein Feldherrenhügel im Verteidigungskrieg gegen Napoleon. Danach grasten die Gäule der Bierkutscher an seinen Rändern, und auch die 200 Kühe der »MilchKur-Anstalt« aus der Kreuzbergstraße Nummer 27/28 vertraten sich bei gutem Wetter auf dem Kreuzberg die Beine. Nach dem Krieg wanderte eine kleine Schafherde über die Wiesen am Fuß des Hügels, russische Soldaten trieben sie täglich aus einem Hinterhof über die Belle-Alliance-Straße zu den spärlichen Wiesen des Tempelhofer Feldes.
Die Soldaten biwakierten mit Pferd und Wagen in den Höfen der Häuser 81-83. »Der Russe fand et jut, dass er bei uns die Türen abschließen konnte!«, erzählt Horst Pleßow. Der ehemalige Hausmeister kam auf die Höfe, als die Belle-Alliance-Straße bereits Mehringdamm hieß. Aber der alte Fritz, ein 98jähriger Malermeister aus der Nummer 55, hatte schon dort gewohnt, als die Straße noch ihren stolzen Namen trug. Und Fritz Hermes wusste auch Ende der Siebzigerjahre alles noch ganz genau. An die Firma Sarotti konnte er sich gut erinnern.
Bis heute ziert der kleine Diener mit den Pluderhosen und dem großen Turban eine Hauswand. Ein Hinterhofhotel schmückt sich mit dem wohlklingenden Namen, und im Vorderhaus der Nummer 57 serviert das »Sarotti-Cafe« Kakao der Firma Sarotti und reicht kleine Schokoladentafeln mit dem historischen Schriftzug. Auch wenn Sarotti längst zu Nestlé gehört. Und obwohl es damals, als in den Höfen noch Schokolade »gemischt und gewalzt wurde«, im Haus des Dampfschokoladenfabrikanten Hugo Hoffmann nirgends etwas Süßes zu kaufen gab. Die Ladengeschäfte befanden sich nämlich in vornehmen Gegenden an der Friedrichstraße oder der Leipziger Straße. In der Tempelhofer Vorstadt war das Leben weniger süß. Da wurde gearbeitet.
Bis zu 1.800 Menschen sollen in den Fabriketagen Sarottis beschäftigt gewesen sein. Seit der Konditor auf der Pariser Weltausstellung mit dem »1. Staatspreis« ausgezeichnet wurde und sich das Gerücht herumgesprochen hatte, dass eine Tasse Kakao reiche, um »einen ganzen Tag reisen« zu können, »ohne weiteres Essen zu bedürfen«, war die Nachfrage nach Schokolade und dem braunen Erfrischungsgetränk gewaltig gestiegen. Immer mehr Arbeiter, Maschinen und Lagerräume mussten her, und bald waren die Arbeitsverhältnisse derart beengt, dass die Polizei »einen mißbilligenden Blick auf die unhaltbaren Zustände« warf. 1911 verkündete der Konditor, »den täglich steigenden Ansprüchen des Konsums« in der kleinen Fabrik »nicht mehr genügen zu können«. Zwei Jahre später verließ der Mohr sein Quartier in der Belle-Alliance-Straße und zog nach Tempelhof.


Begonnen hatte die Geschichte der Höfe bereits vor 150 Jahren. Am 19. September 1859 erhielt ein gewisser Carl Griese die Erlaubnis, auf seinem Grundstück an der damaligen Tempelhofer Straße 30 ein »Wohn-Stall-und Apartmentgebäude« zu errichten. Es entstand ein Stall für 9 Pferde im Erdgeschoss und je drei Wohnräume im ersten und zweiten Stock. Nach und nach wuchsen im Garten hinter dem Haus ein Seitenflügel, weitere Ställe und Schuppen. 1881 kaufte der Konditor Hugo Hoffmann das Haus und errichtete an Stelle der Remise ein Fabrikgebäude. Die Straße hieß schon Belle-Alliance, als das expandierende Unternehmen zur Nummer 81 auch die Hausnummern 82 und 83 hinzukaufte.
»Von Sarotti ist nicht mehr viel zu sehen«, sagt der alte Hausmeister. »Nur die Keller sind alle noch gekachelt, das war hygienisch einsame Spitze damals.« Auch die Heizungsanlage war »im Prinzip das Beste, was es gibt. Da kieken die Installateure heute noch.« Im Keller wurde der Kessel mit Koks oder Holz angeheizt. »Im Prinzip funktionierte die Dampfheizung wie die Zentralheizung, aber die Heizkörper wurden so heiß, dass man Eier drauf kochen konnte!« Noch heute werden einige Heizkörper mit Dampf aus dem Keller gespeist.
Hausmeister Pleßow war eine Institution. An seinem Hausmeisterhäuschen mit den Blumentöpfen vor der Tür kam keiner vorbei. Wer hier etwas mieten wollte, ging nicht zum Makler, sondern zu Pleßow. »Die standen hier Schlange!« Darüber hinaus war Pleßow die zentrale Anlaufstelle für die Mitarbeiter verschiedenster Firmen, die auf die Höfe kamen. Eine der ersten von ihnen war die Druckerei Kühn & Söhne. Zwischen
1913 und 1923 hatte Kühn Senior die Häuser von Hoffmann gekauft, in den Höfen die Druckerei eingerichtet und die großen Wohnungen im Vorderhaus in kleinere Parzellen unterteilt und ertragreich vermietet. Die unsympathischste Firma bezog 1936 am Mehringdamm Quartier: die Ortsgruppe Gneisenau der NSDAP. Die Nummern 81 und 82 dienten den Nazis zur Lagerung von Filmmaterial.
Dennoch fiel nur ein Seitenflügel den Bomben zum Opfer. Nach dem Krieg dienten die Höfe einer Bank als Unterschlupf, dann richteten sich eine Tischlerei, eine Schneiderei, eine »Fabrik für falsche Zähne« und die »Spreearchitekten« am Mehringdamm ein. Bereits 1969 wurden die Fassaden der Gebäude mit Unterstützung des Senats restauriert und zum »geschützten Baubereich« erklärt. Heute gehören die Sarottihöfe zu den Vorzeigeobjekten, das Sarottihotel ist eine stadtbekannten Adresse, Trauben von Touristen stehen vor dem großen Mohr und lauschen den Fremdenführern, die die phantastische Erfolgsgeschichte des Dampfschokoladenfabrikanten Hugo Hoffmann erzählen.•

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