Kreuzberger Chronik
April 2009 - Ausgabe 106

Reportagen, Gespräche, Interviews

Wohnen auf dem Friedhof


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von Michael Unfried

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DIE MIETEN IN DER BERGMANNSTRASSE WERDEN IMMER TEURER. DOCH AM ENDE DER STRASSE LIEGEN DIE FRIEDHÖFE



ES IST EIN stiller Dienstagvormittag, die ersten Sonnenstrahlen fallen auf die alten Klinker der Friedhofsmauern und die rostigen Zäune an der Bergmannstraße. Vögel zwitschern, im Café Diwan bringt der Kellner den ersten Kaffee an den Tisch mit der schwarz gekleideten Dame. »Können Sie mir schnell noch einen Kaffee machen?«, hatte sie gefragt und auf die Uhr geschaut. Nun sitzt sie am Fenster und beobachtet die anderen Trauergäste, die in kleinen Gruppen den Weg vom Dreifaltigkeits-Friedhof am Marheinekeplatz zum Alten Luisenstädtischen Friedhof am Südstern einschlagen. Eine Stunde später ist der Sarg in die Erde gelassen, der letzte Blumenstrauß hinabgefallen. Die Trauernden sind auf dem Weg zurück ins Leben, zur Markthalle oder zum Südstern, und gehen ihren alltäglichen Beschäftigungen nach.

Ebenso wie die beiden Arbeiter auf dem Friedhof. Kaum sind die Trauernden um die Ecke, rücken sie mit schwerem Gerät an, um die klaffende Lücke in der friedlichen Landschaft zu schließen. Ein Mann springt ins Grab und reißt die stützenden Bretterwände heraus, der andere rollt mit einer Fuhre Erde heran. Dann lässt der Baggerfahrer die Schaufel mit aller Wucht des Gewichtes auf das Grab fallen. »Verdichten nennen die das!«
So schildert ein Anrainer, der von seinem Balkon aus zum Friedhof hinüber blickt, die Vorgänge hinter den Kulissen der Begräbnisinszenierungen. Egon Elend, der ehemalige Gärtner vom Friedrichwerderschen Kirchhof, ist beeindruckt. »Son Sarg, der muss doch stehen wie ne Eins. Monate lang. Das ist Pflicht.« Schließlich kommen immer wieder Angehörige, denen der Platz nicht gefällt. Und dann muss umgebettet werden. Und wie sieht denn das aus, wenn der Sarg und die Leiche dann ganz platt sind?

Dass die Pietätlosigkeit auf den städtischen Friedhöfen zugenommen hat, ist nicht verwunderlich. Ein fest angestelltes Friedhofspersonal gibt es dank Hartz IV und Ein-Euro-Jobs nicht einmal mehr bei der Kirche. Zwischen den Gräbern des 21. Jahrhunderts arbeiten Billigkräfte in Jeans oder Blaumännern. Geistliche sind auf den Gottesackern kaum mehr anzutreffen, und in der Verwaltung sitzen Angestellte, die ebenso im Finanzamt oder bei der BVG sitzen könnten.

Deshalb läuft nicht mehr alles so ganz nach göttlichem Plan, und es kann vorkommen, dass plötzlich nicht mehr der Name der Verstorbenen, sondern der einer noch quicklebendigen Schwester auf dem Grabstein steht, die angesichts der falschen Inschrift glatt in Ohnmacht fällt. Oder dass just aus dem frisch zugeschaufelten Grab die Spitze eines kleinen Knochens ragt. Die Sicht aus der kleinen Kanzel des Baggerfahrers ist begrenzt.

Dabei könnte sich die Kirche ordentliche Arbeiter leisten. »Die ham doch Geld!«, sagt Egon Elend. Aber die Vermietung der letzten Ruhestätten war schon immer ein Geschäft. Eines, das nach dem Krieg noch
Foto: Thomas Schön
kräftig florierte. Frau Hohmann, die am Eingang des Jerusalemer Friedhofs Blumen verkauft, erinnert sich, dass Anfang der Sechzigerjahre der Hof so voll war, dass man darüber nachdachte, »doppelstöckig zu belegen«. Inzwischen ist der Tod knauserig geworden, immer seltener versorgt er die Friedhofseigner mit Nachwuchs, Platz auf den Gottesäckern gibt es jetzt genug. Zumal jede dritte Beerdigung namenlos und Platz sparend stattfindet.

Seit Egon Elend sich in die Pension verabschiedete, ist die Blumenhändlerin die Dienstälteste auf dem Gottesacker. Seit 1981 beobachtet sie das Kommen und Gehen und kommt zu dem Fazit, dass die glanzvolle Zeit der Friedhöfe Vergangenheit ist. »Als Schleiermacher beerdigt wurde, da folgten 30.000 Menschen seinem Sarg! Die zogen alle durch diese kleine Bergmannstraße. Das kann man sich heute kaum mehr vorstellen.«
Doch es ging auch ohne diese gigantische Laufkundschaft. Drei Filialen hat Frau Hohmann, die 1959 in der Katzbachstraße Nummer 13 ihre Lehre als Floristin abschloss, mit den Jahren aufgebaut. Jetzt wird das Backsteinhäuschen, das sie 1989 am Eingang des Jerusalemer Friedhofs errichtete, wieder abgerissen. Nach 50 Jahren der Arbeit war es Zeit, »mal was anderes zu machen.« Vermieten oder verkaufen konnte sie ihr kleines Lebenswerk jedoch nicht. Die Kirche hatte ihr das Grundstück nur auf Lebenszeit verpachtet. Außerdem, so munkelt die Nachbarschaft, sei das Häuschen dem neuen Mieter der Kapelle im Wege gewesen. Der nämlich träumt vom eigenen Garten auf dem humusreichen Friedhofsboden.

Im Blumenladen stehen jetzt nur noch ein paar leere Töpfe und ein paar letzte Pflanzen. Doch Frau Hohmann trauert nicht. Die Goldenen Jahre sind eben auch auf den Friedhöfen schon vorüber, das blühende Geschäft ist mühselig geworden, von Feierlichkeit zeigt sich kaum noch eine Spur. Bei der Friedhofsverwaltung telefonieren die Angestellten mit dem Steinmetz, dem Schreiner, dem Pfarrer und dem Gärtner, oder sie führen Privatgespräche mit Freunden. Tritt ein Trauernder ein, sagen sie: »Ich muss jetzt auflegen, da ist gerade ein Kunde hereingekommen.« Der Mann ist verunsichert, es ist das erste Mal, er hat sich »noch nie damit beschäftigt, was man so alles machen muss, wenn…« Die Frau blickt auf die Uhr und sagt, es sei jetzt eins. Da habe sie Mittagspause.

Auf dem Friedhof ist der Tod erschreckend alltäglich. Egon Elend weiß das: »Allet Routine, sag ick, auch aufm Friedhof. Solange eenen
Foto: Dieter Peters
dat nich selbst betrifft, will ick ma sagen!« 2002, als Elend in den Ruhestand trat und Voigtländer, der neue Verwalter kam, hat er aus seinem Friedhofshäuschen ausziehen müssen. Egon Elend ärgert sich noch heute. Er hätte die kleine Wohnung, von der aus er vom Küchenfenster auf das Grab seiner Frau blicken konnte, gerne behalten. Elend hat Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um dort bleiben zu können, wo er 38 Jahre lang gearbeitet und gelebt hatte, und anfangs sah alles ganz gut aus. Auch wenn die Miete ein bisschen teurer werden würde, »10 Cent pro Quadratmeter oder so was!«

Elend war einverstanden, er hätte auch mehr bezahlt. Aber dann antwortete niemand mehr auf seine Anfragen, und irgendwann kam dieser Voigtländer – »Den hab ick eenmal anjeguckt und mir jedacht, der jehört hier nich hin!« – und sagte, dass Elend ausziehen müsse. Als sich der ehemalige Friedhofsgärtner nicht schnell genug vom Gottesacker machte, drohte der Verwalter mit einer Zwangsräumung auf Kosten des Gärtners. »Nach 30 Jahren, die ick da jewohnt habe. Und dann kam nicht mal mein Nachfolger da rin, sondern ein alter Bekannter vom Steinmetz, die fahren beide nen Porsche.«

Der Friedhof ist keine Insel der Glückseligkeit. Er gehört auch nicht den Toten und den Trauernden, er gehört der Kirche. Und die braucht Geld. Deshalb werden die kleinen Häuser auf den Gottesackern, die bislang nur Bediensteten des Friedhofs zustanden, nun auch an Normalsterbliche vermietet. Die grüne Oase in der immer teurer, lauter und enger werdenden Stadt ist beliebt, Wohnen auf dem Friedhof liegt im Trend. Nachdem die Architekten und Immobilienhändler zunächst Fabriketagen und Wassertürme besetzt haben, alte Umspannwerke und Gasometer vereinnahmten, sich in klassizistischen Backsteinbauten alter Brauereien oder in Stellwerkhäuschen neben stillgelegten Gleisanlagen einnisteten, haben sie nun auch die Friedhöfe entdeckt. Je ausgefallener die Lage, umso auffallender.

Gleich neben der Blumenhändlerin wohnt einer von ihnen. Jahrelang hat er renoviert, bis das Häuschen im Grünen seinen Vorstellungen entsprach. Und auch der neue Nachbar der passionierten Blumenhändlerin mit seinem Traum vom eigenen Garten hat weder Zeit noch Kosten gescheut. Es muss »sein wahrer Herzenswunsch gewesen sein, auf dem Friedhof zu wohnen«, vermutet Frau Hohmann. Drei Jahre hat er um die Genehmigung zum Umbau und zum Einzug auf dem Friedhof gekämpft. Jetzt hat er seine Wohnung in einer Kapelle eingerichtet, in der zuvor noch Totenfeiern abgehalten wurden. Ein Schild an der Fried
Foto: Dieter Peters
hofsmauer weist auf die Aktivitäten des Psychoanalytikers hin, und es könnte sein, dass der hohe, strahlend weiß gestrichene Saal mit seinem Kreuzgewölbe zum extraordinären Behandlungszimmer eines exklusiven Psychiaters werden wird.

Nun schreibt das Berliner Friedhofsgesetz allerdings vor, dass nur jene Gewerbe auf dem Kirchhof zugelassen werden dürfen, »die mit dem Friedhofszweck in unmittelbarem Zusammenhang stehen und mit der Ordnung auf dem Friedhof vereinbar sind.« Das Gesetz vom 1. November 1995 meinte damit Steinmetze, Gärtnereien oder Blumenhändler. Doch in Anbetracht der unglücklichen Finanzlage der 221 Berliner Friedhöfe werden die Besitzer ein Auge zugedrückt haben. »Und ganz so brandaktuell sind die neuen Mieter auf dem Friedhof ja nun auch nicht!«, sagt einer der Stammgäste des Diwan gegenüber. Ein Bildhauer hatte seine Werkstatt auf dem Gelände eingerichtet, und jahrelang lag ein Boot in der Kapelle des Friedrichwerderschen Friedhofs auf dem Trockendeck.

Zudem wäre es denkbar, dass Trauernde nicht nur des geistlichen Beistandes eines Seelsorgers, sondern auch der psychologischen Unterstützung eines Seelendoktors bedürften. Dann wäre der Psychiater gar nicht fehl am Platze. Das Schild an der Friedhofsmauer allerdings wirbt nicht um Hinterbliebene, sondern um Eltern von Kindern »mit Lese-und Rechtschreibschwierigkeiten«. Kids Coach Evelyn Derenthal, eine staatlich anerkannte Heilpädagogin, und Dr. rer. nat. Kurt Husemann, Psychoanalyse und Gruppentherapie, verweisen auf den »Praxiseingang Souterrain-Kapelle.«

Ob eine Praxis zwischen Gräbern zur Stärkung seelisch schwacher Naturen und zum Lernen von Kindern geeignet ist, sei dahingestellt. Die Toten jedenfalls wird Dr. Husemann kaum stören können. Doch bleibt ein merkwürdiger Beigeschmack, wenn die Trauernden zwischen Bäumen und Gräbern spazieren gehen und auf die Klingelschilder und Werbetafeln der neuen Mieter stoßen. Bislang schützten hohe Mauern die friedlichen Höfe vor dem Eindringen Unbefugter. Nun scheinen sie das Eigentum einiger Mieter zu schützen, und sie erinnern an die Mauern und die Zäune des neuen Viktoriaquartiers am Kreuzberg, des Gasometers in der Fichtestraße oder des Flughafens Tempelhof. Sie machen deutlich: Was einst noch vielen, wenn nicht allen Bürgern der Stadt gehörte, ist längst nicht mehr für alle da.

Deshalb wird auch auf dem Friedhof nie der große Friede einziehen. So sehr Gott auch wacht. •

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