Kreuzberger Chronik
Mai 2008 - Ausgabe 97

Dieter Peters Kreuzberger
Lothar Eberhardt

Die Leute brauchen bloß meinen Namen zu hören, dann gehen die Antennen raus und die Jalousien runter.


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von Hans W. Korfmann

Titelfoto: Dieter Peters

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Man kennt ihn gut: den Mann mit den grauen Haaren, der struppigen Frisur, dem lauernden Schalk hinter den Brillengläsern. Den Hosen, die ihm locker um die Beine schlottern, den alten Fahrrädern, auf deren wackligen Gepäckträgern er im Pappkarton die Einkäufe vom Supermarkt transportiert, so daß ihm Kinder auf der Straße in Scharen »Penner«, »Hurensohn« und »Kinderficker« hinterherrufen. Dann wird auch dem hartnäkkigsten Idealisten klar, daß der Chamissoplatz keine heile Welt und keine friedliche Insel in der bösen Stadt ist. Dann erinnert auch der Chamissoplatz eher an Degenhardts Unterstadt.

Man sieht »Lothar« aber nicht nur auf der Straße. Auch in den Kneipen grüßt man ihn. Und wo immer er auftaucht, verwickelt er sich und andere in politische Diskussionen. Wenn irgendwo im Kiez diskutiert wird, ist Eberhardt dabei und ergreift mit seinem schwäbischen Zungenschlag das Wort. In einem unverwechselbaren Duktus, vom ersten bis zum letzten Satz. Egal, ob es um den »Bolzplatz« oder die Sanierung der Markthalle geht.

Lothar Eberhardt wacht über das Geschehen. Er ist zu 100 Prozent engagiert. Er war es auch, der 1999 den ersten Leserbrief an die Kreuzberger Chronik verfaßte. Das »Kiezbläddle« hatte ein öffentliches Gespräch von Vertretern der Gewobag und des Senats über die Sanierung des Chamissokiezes belauscht. Die Zuhörerschaft im Wasserturm witterte Verkauf und Verrat, auch Lothar Eberhardt ahnte Unheil, und die ironische Berichterstattung des neuen Blättchens ging dem Kiezbeobachter nicht weit genug. In seinem Brief warf er der Redaktion vor, unpolitisch zu sein. Dort belächelte man den Übereifer des vermeintlichen Altlinken, und als Eberhardt in der Redaktion anrief, war man kurz angebunden. Solche Reaktionen kennt Lothar Eberhardt: »Die Leute brauchen nur meinen Namen zu hören, dann gehen die Antennen raus und die Jalousien runter.«

Die Ereignisse der jüngsten Zeit aber geben Eberhardt und den Skeptikern recht. Tatsächlich sind in Kreuzberg einige Immobilien von ausländischen Investoren aufgekauft worden. Und tatsächlich greifen die neuen Hausherren noch zu den alten Methoden und entsprechen erstaunlich gut dem verstaubten Klischee vom »Immobilienhai«.

Immer wieder wandte sich »Schwaben-Lothar« nun an das »Bläddle« und wurde nie erhört. Doch der Schwabe ist einer, der sein Ziel nicht aus den Augen verliert und keinen Zoll von seiner Marschroute abweicht. Der noch immer loszieht und Plakate klebt, daß die Wände wackeln. Er sei »der Plakatkönig von Kreuzberg«. Er räumt auf mit Überholtem, reißt ab oder klebt neu drüber. Und immer geht es »um Gerechtigkeit«. Um die Würdigung und Entschädigung von NS-Opfern zum Beispiel.

In seinem Arbeitszimmer stapeln sich die Aktenordner bis unter die Decke. Sie liegen auf dem Schreibtisch, dem Bett, sogar auf dem Boden
Foto: Dieter Peters
lassen sie für den Fußgänger nur wenige dezimeterenge Passagen. »Dort oben, rechts, da hat alles angefangen!«, sagt er und deutet in eine Ecke unter der Decke. Da stehen auf überquellenden Regalbrettern die Ordner zum Thema »Russische Zwangsarbeiterinnen«.

Begonnen hat alles mit einem Film der Naturfreundejugend Württemberg, der Lothar Eberhardt nicht mehr aus dem Kopf ging. »Vergeben, aber nicht vergessen« dokumentierte die NS-Zeit in der Waffenfabrik Mauser in Oberndorf am Neckar, die seinerzeit 6.000 Zwangsarbeiter, darunter 2.000 sowjetische »Zivilarbeiter« beschäftigte. 1993 reiste Eberhardt nach Petersburg und führte diesen Film in den Räumen der Menschenrechtsorganisation Memorial ehemaligen Arbeiterinnen aus der Waffenfabrik vor. Sechs Monate danach fuhr er mit vier von ihnen durch Süddeutschland, besuchte Stuttgart und Oberndorf, organisierte Diskussionsveranstaltungen, gab Radiointerviews, ging mit den Zwangsarbeiterinnen in Schulen und Rathäuser. »Es ging Schlag auf Schlag«. Kaum ein Abend verging ohne Veranstaltung, zwei Wochen lang war Eberhardt Chauffeur, Betreuer, Koordinator, Organisator und Pressesprecher der ehemaligen russischen Zwangsarbeiterinnen. »Ich werde viel weinen«, hatte eine von ihnen noch vor dem Antritt der Reise gesagt. Sie weinte wirklich viel. 14 Jahre war sie alt gewesen, als man sie verschleppte. Auch Nathalja konnte »vieles nur unter Tränen« erzählen.

Als der Südwestfunk am 18. Oktober ein Interview ausstrahlte, in dem die Frauen »vom Heimweh, vom Barackenlager, von der schweren Arbeit« berichteten, berührte diese Sendung Tausende von Zuhörern. »Die Gestapo und die Hunde waren das schlimmste, sie waren überall«, nachts biß sie das Ungeziefer, und »dann dieser bohrende Hunger!«

Bis zu diesem Oktober des Jahres 1993 wurde die Vergangenheit der Waffenfabrik in Oberndorf verschwiegen. Nun standen Menschen mit Transparenten auf der Straße: »Oberndorf entrüstet sich!« Ohne Lothar Eberhardt hätte es diese Plakate nicht gegeben. Auch die Broschüre mit dem Titel »Begegnung mit russischen Zwangsarbeitern« nicht, die er im Herbst mit Spendengeldern veröffentlichte.

Lothar Eberhardt ist »der Sohn eines Antifaschisten. Aber das war nur so eine Begebenheit«, die Lothar erfuhr, als er den Vater über die Zeit in englischer Gefangenschaft ausfragte. Da erzählte der Vater, daß einige seiner nationalsozialistischen Mitgefangenen ihm das Leben schwer machten, nur weil der strenge Katholik dem Pfarrer beim Lesen der Messe half. Sie schlugen ihn mit Steinen lazarettreif, weshalb Eberhardt nach dem Krieg zum verbrieften »politisch unbedenklichen« Antifaschisten wurde. »Dabei war mein Vater stinkkatholisch und ein vollkommen unpolitischer Mensch.«

Auch Lothar war zunächst unpolitisch. Eigentlich interessierte ihn Tischtennis, und auf die Demo gegen den Numerus Clausus kam er nur, weil das komplette Gymnasium von Horb mitlief, wo die meisten seiner Kumpel waren. Lothar selbst hielt sich »für einen Mittelschüler« und besuchte die Realschule. Er war jedoch nicht der einzige Fremdkörper auf der Demo: Das größte Transparent trug Ecki, der längst arbeiten ging. Für Lothar aber gewann der Paragraph später noch einmal Bedeutung, denn irgendwann holte der selbsternannte Mittelschüler das Abitur doch noch nach.

Bereits 1972 hatte er Horb verlassen und an der Universität in Marburg eine Stelle als Chemisch-Technischer Assistent angetreten. Er fühlte sich wohl unter den Studenten, ließ sich die Haare wachsen, trat dem Komitee gegen Berufsverbote bei und fuhr 1972 mit nach Dortmund zur Vietnam-Demo. »Da waren 20.000 Leute, das war ein Riesenerlebnis«. Das Riesenerlebnis allerdings kostete ihn auf der Stelle die Stelle als Chemisch-Technischer Assistent.

Doch fand er in der Nähe einen neuen Job in der Pharma-Forschung, wohnte in einer Straße mit dem schönen Namen »Unter dem Gedankenspiel«, hatte es im Institut vor allem mit Versuchsratten, aber auch mit jungen Mitarbeiterinnen zu tun, denn damals waren die »Assistenten ale weiblich«. 1976 verweigert er den Wehrdienst, im Mai 1977 verschlägt es das Mitglied der Naturfreundejugend Württemberg nach Bonn, wo er in der Selbstorganisation der Kriegsdienstverweigerer arbeitet, und 1979 endlich zieht er in der Kreuzberger Yorckstraße ein und beginnt mit dem Psychologiestudium.

Auch am 1. Mai ist er dabei, und nach der Demo betritt er zum ersten Mal den Heidelberger Krug. Da lernt der junge Gewerkschafter Uwe Hübsch kennen, Leute vom Mieterrat und von einer Schauspieltruppe, für die er später einmal Liza Minnelli mimen muß, weil einer der Schauspieler ausgefallen war. Er tritt dem Mieterrat bei, hilft, den Chamissoplatz umzugestalten, und auch als die Kreuzberger vier Häuser auf einmal besetzen, ist der Schwabe mit dabei. Er schlug allmählich »Wurzeln im Kiez«, und auch wenn Schwaben seine »Heimat geblieben ist«, wurde »Kreuzberg sein Zuhause«. Hier arbeitet er. Zieht mit seinem Fahrrad durch die Stadt und klebt Plakate.

Die Liste seiner politischen Aktionen ist beeindruckend. Nach der »Begegnung mit russischen Zwangsarbeiterinnen« folgt 1994 der Stukenbrocker Appell zur finanziellen Unterstützung sowjetischer NS-Opfer, sowie der Potsdamer Appell zur Rehabilitierung aller »NS-Militärjustizopfer«. Gleichzeitig gründet er mit seinen politischen Mitstreitern die »Gedenktafelinitiative Franz Jägerstätter«, eines von den Nazis ermordeten Kriegsdienstverweigerers. Sie führt 1997 zur endgültigen Einrichtung einer Gedenktafel an der Umfriedung des ehemaligen Reichskriegsgerichts.

Anläßlich des Gedenktages für die Opfer des Nationalsozialismus initiiert er mit Freunden – noch lange vor der Debatte um die Entschädigung des griechischen Dorfes Distomo – die Veranstaltung »Griechenland unter dem Hakenkreuz«, an der renommierte Politologen teilnehmen, und die von den Medien aufmerksam begleitet wird. Ein Jahr darauf gründet er das »Aktionsbündnis gegen das Heldengedenken in Halbe«, 2004 arbeitet er an einer »Initiative für die italienischen Militärinternierten«. Im gleichen Jahr erinnert er auch an den Schweizer Hitlerattentäter Maurice Bavaud, der in Plötzensee ermordet wurde.

Zuletzt wirkte Lothar Eberhardt bei einer mehrmonatigen Vortragsreihe zum Thema »Armut und Asozialität« mit, die im Haus der Demokratie, im Mehringhof und im Museum Lichtenberg die NS-Terminologien der »Herumtreiberei« und des »liederlichen Lebenswandels« untersuchte und bedenkliche Parallelen zur Gegenwart aufzeigte.

Auf der Bühne aber steht Eberhardt nur selten. Er ist ein Mann, der im Hintergrund wirkt. Er ist der Plakatkönig, aber er ist nie auf seinen Plakaten zu sehen. Um auf den Unermüdlichen aufmerksam zu machen, hat seine Tochter ihn für den »Panter-Preis 2007« der taz vorgeschlagen. Der Preis mit dem rassigen Namen ehrt die »Helden des Alltags«. In der Begründung schreibt sie: »Lothar Eberhardt begleitet die NS-Erinnerungsarbeit kritisch, engagiert und ehrenamtlich. Sein (…) sozial-politisches Engagement gehört gewürdigt als das eines Arbeiters für die Menschenwürde und gegen das Vergessen.« Eine Antwort blieb bis heute aus.

Hans W. Korfmann

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