Kreuzberger Chronik
Juni 2008 - Ausgabe 98

Der Mensch
Michaela Prinzinger

Es gibt viele Möglichkeiten, einen Text zu verstehen


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von Achim Fried

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Am Anfang war die Lüge. Doch ohne sie wäre das Leben der Michaela Prinzinger vielleicht anders verlaufen. Sie stellte die Weiche. Eine winzige Lüge nur. Nicht die raffinierte Lüge eines großen Lügners, sondern die kleine, zufällige Unwahrheit eines braven Mannes aus dem österreichischen Burgenland, eines kleinen Schummlers, der ein bißchen übertrieb und flunkerte, wenn es ihm zum Vorteil gereichte.

Wie zum Beispiel bei der netten Friseuse, die den sympathischen Familienvater mit den verführerischen Augenbrauen ein wenig becircte und ihn eines Tages fragte, wo er denn so schön braun geworden sei. Woraufhin der Vater, um ein wenig aufzuschneiden und die Banalität des heimischen Gartens mit Liegestuhl unerwähnt lassen zu können, den Namen einer Stadt nannte, von der er noch nicht einmal genau sagen konnte, in welchem Land sie lag, von der er aber zuvor beim Frühstück im Radio gehört hatte: Thessaloniki. Als die Friseuse nun bei jedem Haarschnitt nach Thessaloniki fragte, blieb ihm nichts anderes übrig, als eines Tages tatsächlich mit seiner Familie nach Griechenland zu reisen.

Und hätte die Familie aus dem Burgenland diesen Urlaub nicht in der Nähe von Thessaloniki verbracht, wo sich die blonde, siebzehnjährige Tochter gleich in einen griechischen Adonis verliebte, dann wäre sie vielleicht niemals auf die Idee gekommen, ein so exotisches Fach wie Neogräzistik zu studieren. Dann wäre sie womöglich nie nach Berlin gekommen, hätte nie diese Doktorarbeit über griechische Gegenwartsautorinnen geschrieben, die 1995 als eine der drei besten Doktorarbeiten Berlins mit dem Joachim-Tiburtius-Preis ausgezeichnet wurde. Sie wäre auch nie nach New York gekommen, denn für ihr Buch mit dem Titel »Mythen, Metaphern, Metamorphosen« erhielt sie ein Stipendium an der Princeton University, an der die Gastprofessoren für Literatur Gabriel García Márquez oder Toni Morrison hießen. Vielleicht hätte Michaela Prinzinger Zeit ihres Lebens Literatur nur in der Freizeit gelesen, zurückgelehnt im Liegestuhl, in der Sonne, genießend. Und nicht mit dem detektivischen Spürsinn einer Wissenschaftlerin. Nicht mit dieser Besessenheit des Kriminalisten.

Wahrscheinlich hätte sie sich auch nie für Kriminalromane interessiert. Obwohl schon in den »Mythen, Metaphern, Metamorphosen« ein besonderes Talent der Österreicherin sichtbar wurde: das Talent der logischen Kombination. Ähnlich wie die Herren mit den karierten Schirmmützen im nebligen London oder Paris verstand es die zarte Burgenländerin, auf der Suche nach der Wirklichkeit zwischen den am weitesten entfernten Punkten waghalsige Verbindungen zu konstruieren,

Unwahrscheinlichkeiten für wahrscheinlich zu erklären und ein völlig neues Bild der Gegebenheiten zu schaffen. Auch nach über zwanzig Jahren literarischer Forschung verteidigt sie die These, daß gute Text auf vielerlei Art zu lesen und zu verstehen seien, daß man einen Text nicht auf eine Aussage reduzieren dürfe. Manchmal erweckt sie den Eindruck, als bereite es ihr ein heimliches Vergnügen, die auf Logik eingeschworenen Theoretiker zu verwirren. Als führe sie ihre Leser und Zuhörer gern absichtlich in die Irre. Eine Technik, die auch Autoren von Kriminalromanen gerne anwenden.

Vielleicht sind sie deshalb ein so gutes Paar geworden, die literarische Übersetzerin Michaela Prinzinger und der Autor Petros Markaris. Es trieb sie die gleiche Leidenschaft, die gleiche Neugierde an. Sie sind ein literarischer Glücksfall, Michaela Prinzinger und Petros Markaris, der nach drei Kriminalromanen plötzlich einen Band bitterer Kurzgeschichten vorgelegt hat, die man dem Schöpfer des Kommissar Charitos nicht zugetraut hatte. Inzwischen hat dieser Kommissar bei Diogenes bereits den vierten Fall gelöst, im Sommer wird Charitos erstmals im deutschen Fernsehen zu sehen sein, während Michaela Prinzinger die Übersetzung eines umfangreichen Essays abgeschlossen hat, in dem es um die alte Heimat des griechischen Autors geht: um Istanbul!

Doch Charitos allein macht die Literaturwissenschaftlerin so wenig glücklich wie den Autor Petros Markaris, der Jahre seines Lebens über der Übersetzung des »Faust« ins Griechische brütete und zwischendurch mit Theo Angelopoulos an Drehbüchern schrieb. Im vergangenen Jahr endlich hat auch die Österreicherin endlich wieder ein eigenes Buch veröffentlicht: einen literarischen Reiseführer über die Insel Kreta, der seinesgleichen suchen muß.

Über ein Jahr lang hat die Kriminalistin recherchiert, in den Bibliotheken, bei den Autoren und deren Nachfahren, auf Kreta selbst. Sie hat Erstaunliches zutage gefördert. Sie hat den »kleinen Sifis« in Berlin aufgespürt, der in Erhart Kästners berühmten Griechenlandbüchern als Führer des Autors auftaucht, und sich mit ihm getroffen. Sie hat sich in den Briefwechsel von Kazantzakis und seiner Geliebten vertieft, in seine Ehegeschichte. Sie hat in den Tagebuchaufzeichnungen einer alten Tavernenbesitzerin gelesen, die als kleines Mädchen die Gespräche der Männer belauscht hatte, welche Kazantzakis und seine Freundin beim Nacktbaden beobachtet hatten. Sie hat den noch unveröffentlichten Briefwechsel zwischen Henry Miller und Alexandros Venetikos gelesen, Briefe, die die Tochter des griechischen Antikenwächters von Phaistos eines Tages aus der Lade zog. Sie hat sich auf ihrer Spurensuche so viele Notizen gemacht, daß sie beim Schreiben schon nach wenigen Tagen weit über das Ziel hinausgeschrieben hatte und am Ende über die Hälfte wieder streichen mußte.

Auf Kreta Foto: Privat
Das Nützliche mit dem Angenehmen verbinden: Recherchen zu »Kreta. Ein Reisebegleiter. Insel Taschenbuch it 3202«.

Unter dem »Abfall« befinden sich solche spannenden Passagen wie die über Kazantzakis, der mit seinem »kleinen Füllfederhalter (…) nicht nur Literarisches verfaßt, sondern auch am »Tatsachenbericht des Zentralkomitees für die Feststellung der Greueltaten auf Kreta« mitgearbeitet (hat). Im Sommer 1945 hat er zusammen mit zwei Universitätsprofessoren und einem Fotografen »insgesamt sechsundsiebzig Orte besucht und das Unfaßbare dokumentiert.«

Die Berichte sind erschütternde Dokumente über die Naziherrschaft auf der Insel, die plünderten und mordeten. Kein Dorf sei verschont geblieben, »Geistliche wurden inhaftiert, exiliert, geschmäht und hingerichtet; Kirchen wurden gesprengt, in Latrinen verwandelt und geschändet; Kirchtürme wurden zu Schießständen umfunktioniert, Ikonen und liturgische Gegenstände wurden gestohlen, verbrannt oder zweckentfremdet; eine große Anzahl von Schulen und Wohnhäusern wurde bis auf die Grundmauern niedergebrannt.« Auch jene traurige Stelle, in der die Kommission das Schicksal von Emmanouil Symvoulakis aus Ajios Vassilios beschreibt, ließ Michaela Prinzinger im Entwurf zu ihrem Reiseführer nicht aus: Symvoulakis fiel mit seiner dreijährigen Tochter in die Hände der deutschen Truppen und wurde zur Massenhinrichtung geführt. Dort ließ er sich im Kugelhagel fallen und stellte sich tot, sein weinendes Kind wurde von einem deutschen Soldaten aus nächster Nähe erschossen. »Der unglückliche Vater verharrte stundenlang bewegungslos, sein Gesicht vollgespritzt mit Blut und Hirn seines Kindes, bis die Deutschen abzogen, nachdem sie noch fröhlich zu Tisch gesessen hatten.«

Mit Petros Markaris Foto: Privat
Das ist schwere Kost für die Deutschen auf der Suche nach Sorbas, Sonne und Wein. Das eignete sich nicht als Strandlektüre. Aber so ist sie immer gewesen, Michaela Prinzinger, rücksichtslos, ungemütlich, unbequem. Unaufhaltsam und ehrgeizig. Immer auf der Suche. Nach dem Verbrechen, nach den Ungerechtigkeiten. Deshalb auch ist sie überall angeeckt, auf der Universität, in den Instituten, den griechischen Kulturstiftungen und Vereinen. Die Verlage allerdings wissen gerade diese gewissenhafte Arbeit der Autorin zu schätzen. Mehrere Probeübersetzungen des ersten Charitos-Romans hatte der Diogenes-Verlag bereits abgelehnt, da alle den rauhen Ton zu beschönigen versuchten. Erst die Frau aus dem charmanten Österreich übersetzte die Worte des Kommissars so, daß Lektorin und Autor zufrieden waren: »Du hältst mich wohl zum Narren, du Hurenbock, du Scheißalbaner (…) elender Wichser …« Das war die Sprache Athens. So schrieb der Autor. Und so schrieb auch Michaela Prinzinger.

2003 erhielt sie den griechisch-deutschen Übersetzerpreis. Doch weil sich mit dem Übersetzen ebenso schlecht leben läßt wie mit dem Studieren oder dem Schreiben von Reisebegleitern, ist aus der Wissenschaftlerin, Übersetzerin und Autorin jetzt auch eine beeidigte Dolmetscherin geworden. Nun steht sie tatsächlich den Verbrechern und der Polizei gegenüber, auf den Wachen, im Gefängnis, vor Gericht. Noch immer auf Spurensuche. Aber dieses Mal begleitet sie keinen Autor, sondern die Richter auf der Suche nach der Wahrheit.

Manchmal, wenn zwischen alledem etwas Zeit blieb, schrieb Michaela Prinzinger einen Text für die Kreuzberger Chronik. Sie hatte nie viel Zeit, und es waren nur einige wenige, kleine Texte. Perlen aber, an die sich noch heute Leser erinnern, die plötzlich fragen: Was ist eigentlich aus »Luft und Kerr« geworden. Auch das war so eine Idee von ihr: Die beiden Berliner Kritiker noch einmal wiederzubeleben, eine Brücke zu schlagen zwischen Gegenwart und Vergangenheit, Fiktion und Wirklichkeit.

Am weitesten ins Reich der Phantasie trieb es sie in einer Ausgabe der Kreuzberger Chronik, die es mit der Wahrheit und der Historie nicht so ernst nahm: Die Kreuzberger Chronik vom September 2003. Und noch immer, fünf Jahre nach ihrem Artikel über die Templer, melden sich begeisterte Leser, die jedes Wort als die reine Wahrheit verstanden haben, und die all jene kleinen, augenzwinkernden Hinweise zum besseren Verständnis überlesen haben. Michaela Prinzinger hatte deshalb nie ein schlechtes Gewissen. Sie hat es schließlich schon immer gesagt: »Es gibt so viele Möglichkeiten, einen Text zu verstehen.«


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