Kreuzberger Chronik
September 2007 - Ausgabe 90

Die Geschichte

Jürgen Henschel und die Wahrheit


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von Martin Düspohl

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Im Jahr 1991 übergab Jürgen Henschel dem Archiv des Kreuzberg Museums fünf Aktenordner mit 650 Negativbogen und 20.000 Negativen. Seit dieser Zeit profitiert das Museum bei Ausstellungsprojekten und Publikationsvorhaben von einem einzigartigen Bilderfundus, der die politische und soziale Entwicklung des Bezirks Kreuzberg dokumentiert. Henschel begleitet Demonstrationszüge, er ist bei Tarifauseinandersetzungen und Streiks dabei, besucht Bürgerinitiativen und verfolgt die politische Selbstorganisation der Migranten. Weil Henschels Fotografien über vier Jahrzehnte hinweg entstanden sind, zeigen sie auch, wie sich die Artikulation von Protest über die Jahre verändert. Neben »herkömmlichen« Formen wie Streik und Demonstration entwickeln Kreuzberger Gruppen phantasievolle und neue Formen der Einmischung. All das ist auf Henschels Bildern zu sehen.

Die ersten von Henschel in Kreuzberg fotografierten Demonstrationszüge sind von weltpolitischen Themen bestimmt. Am 26. März 1967 veranstaltet die Kampagne für Abrüstung erstmalig einen Ostermarsch in WestBerlin, etwa 3.000 Teilnehmer ziehen am Kottbusser Tor vorbei durch die Gitschiner Straße. Ein Jahr später, am 1. Mai 1968, organisiert die außerparlamentarische Opposition unter dem Eindruck des Attentats auf Rudi Dutschke eine eigenständige Demonstration in Neukölln und Kreuzberg, unabhängig von den 1.MaiVeranstaltungen des DGB. Diese Demonstration markiert den Beginn einer inzwischen vier Jahrzehnte währenden Tradition gewerkschaftsunabhängiger 1.MaiDemonstrationen in Kreuzberg.

Ein Jahr später, am 27. März 1969, lichtet Henschel eine APODemonstration auf dem Mariannenplatz ab. Es geht um die vom Senat geplante Aufhebung der staatlich regulierten Miethöhen. Auf Transparenten sind die Worte »Bethanien« und »Profit« zu lesen, und der konservative Tagesspiegel warnt vor einer Allianz aus »Anhängern der außerparlamentarischen Opposition und Kreuzberger Bürgern«. Am »Bethanien« war es dann auch, wo die politische Opposition neue Instrumentarien der Auseinandersetzung mit der Staatsgewalt entwickelte: Ton Steine Scherben skandieren »Das ist unser Haus«, und das »MarthaMariaHaus« mutierte zum »GeorgvonRauchHaus«.

Anfang der 70er Jahre richtet er sein fotografisches Augenmerk auf die Arbeitskämpfe, die Elternproteste, die Friedensinitiativen und die beginnende Selbstorganisation türkischer Immigranten. Am 6. Dezember 1975 dokumentiert er die Forderung türkischer Schüler und Eltern nach besserer Schulausbildung, 1976 beobachtet er eine Pressekonferenz der Humanistischen Union im Jugendfreizeitheim Naunynstraße über die drohende Arbeitslosigkeit unter ausländischen Jugendlichen. Was Henschel bereits vor 30 Jahren fotografierte, wird erst heute auf
Jürgen Henschel
breiter Basis diskutiert. Aus der Bedrohung von damals ist Wirklichkeit geworden.

Außerordentlich beschäftigt ist der Fotograf im Mai 1976. Der Monat beginnt mit einer eindrucksvollen MaiDemonstration am Kottbusser Damm: für höhere Löhne und Gehälter, für erschwingliche Wohnungen, gegen Stellenstreichungen in den Kindertagesstätten, für antiimperialistische Solidarität in den politischen Kämpfen Spaniens und der Türkei, für den Befreiungskampf des kurdischen Volkes usw. Tausende sind auf den Beinen, und man kann sich trotz der SchwarzWeißFotos gut vorstellen, wie bunt und multiethnisch diese MaiDemonstration war. Am 12. Mai gehen die Drucker unter dem Banner der Gewerkschaft für bessere Arbeitsbedingungen auf die Straße und genießen die Solidarität des mitmarschierenden Günter Grass, wie eines der HenschelFotos bezeugt. Die Wahrheit, jene Zeitung, für die Henschel 21 Jahre lang unterwegs war, wurde ihrer politischen Korrektheit wegen durch die Gewerkschaftsleitung von den StreikAktionen ausdrücklich befreit.

Zwischen den vielen Fotos aus dem Mai 1976 befindet sich eines, das zunächst unspektakulär erscheint. Es ist das Bild eines heruntergekommenen alten Mietshauses in der Wilhelmstraße 9, aus dessen Fenstern Transparente hängen. Dabei handelt es sich um eines von drei Mietshäusern nördlich des Halleschen Tors, die den Krieg, die folgenden Abrißaktionen und die Neubebauung der südlichen Friedrichstadt unbeschadet überstanden hatten. Das Haus hatte lange leer gestanden und war einige Monate zuvor von einem Selbsthilfeprojekt junger Sozialarbeiter und jugendlicher Trebegänger besetzt worden: das TommyWeißbeckerHaus.

Das Foto steht für den Beginn des Kreuzberger Häuserkampfes, den Henschel in den folgenden Jahren mit großem Interesse und Sympathie verfolgt. Dabei erregt ihn besonders der Fall des Mietshauses Fraenkelufer 30, dessen Wohnungen Hausbesitzer Gertig mit Gerümpel vollgestellt hatte, was im April 1981 die »InstandBesetzung« dieser Wohnungen provoziert. Henschel fotografiert das Geschehen um dieses Mietshaus kontinuierlich: In engem, offensichtlich auch illegitimem Kontakt mit den Behörden erreicht Gertig die polizeiliche Räumung, welche Henschel mit der Kamera dokumentiert. Gegen die Besetzer werden Gerichtsverfahren angestrengt, und als im November 1982 die ersten Besetzer vor Gericht stehen, hat der Hausbesitzer den »Ursprungszustand« bereits wieder hergestellt: Statt die Wohnungen zu vermieten, nutzt er sie als Sperrmüllager.

Ende der 70er Jahre findet man Henschel häufig bei den Streikaktionen und Lohnkämpfen, er ist dabei, wenn die KarstadtVerkäuferinnen statt hinter ihrem Ladentisch mit Protestplakaten vor dem Kaufhaus am Hermannplatz stehen. Und er ist auch dabei, als am 5. Januar Mitglieder des Türkischen Demokratischen Arbeitervereins mit Anhängern rechtsgerichteter, fanatischer Organisationen aus der nahen MevlanaMoschee in Streit geraten. Der türkische Lehrer und Gewerkschafter Celalettin Kesim wird dabei durch einen Messerstich tödlich verletzt. Am darauffolgenden Wochenende ist Henschel bei der Trauerfeier in der Neuen Welt an der Hasenheide zugegen und nimmt zusammen mit 11.000 Menschen an der sich anschließenden Gedenkdemonstration teil. Gefordert wird das Verbot aller faschistischen und fanatischreligiösen Organisationen. Die MevlanaMoschee verurteilt in einer Stellungnahme die Tötung Kesims und schreibt: »Wir sind keine Grauen Wölfe, wir sind gläubige Muslime, die aus religiösen Verfolgungen in unserem Lande in ein Land gekommen sind, das in seinem Grundgesetz die Religionsfreiheit verankert hat«. Gedenkdemonstrationen für Celalettin Kesim finden seither an jedem 5. Januar statt, Jürgen Henschel hat keine versäumt.

1981 ist Henschel bei den Protesten gegen die verschärften Aufenthaltsbedingungen für Ausländer, den »LummerErlaß«, dabei, 1983 bei der Demonstration gegen die Konservative Aktion, die in einer »Aktion Heimkehr« in Berlin lebende Türken zur »Heimkehr« aufgefordert hatte. An diese Demonstration schließen sich in Kreuzberg schwere Krawalle an, verantwortlich ist die Polizei, die mit ihren Einsatzfahrzeugen quer über die Wiese des Mariannenplatzes rast und türkische Familien beim Picknick auseinandertreibt. Ebenfalls 1983 fotografiert er den Versuch von 400 Personen, ein Treffen der Organisation »Stahlhelm« im ehemaligen NaziLokal Kaiserstein am Mehringdamm zu unterbinden. Jahrelang begleitet er mit der Kamera die Kampagne für das Ausländerwahlrecht. Und im Oktober 1986 fotografiert er die Traubenernte am Viktoriapark und danach die Proteste der Gartenbauamtsmitarbeiter gegen die geplante Privatisierung der öffentlichen Grünpflege. 4.000 Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst sind gefährdet. Heute werden die öffentlichen Grünanlagen privat oder von Arbeitslosen nach 1EuroTarif bewirtschaftet.

Bis in die 80er Jahre hinein hat Jürgen Henschel die Protestbewegungen in Kreuzberg festgehalten. Manchmal scheint es, als seien die Themen, Orte und Aktionen austauschbar, und es entsteht der Eindruck eines endlosen Aufbegehrens, eines unermüdlichen Kampfes. Trotzdem reißt diese eindrucksvolle Bilderserie plötzlich ab: 1988 geht Henschel in den Ruhestand, die Wende in der DDR und der Zusammenbruch des SEDRegimes haben die Einstellung der SEWnahen und deshalb stets umstrittenen Tageszeitung Die Wahrheit zur Konsequenz. Mit der Wiedervereinigung der beiden Stadthälften wird Kreuzberg abrupt aus seiner Randlage an der Mauer in die Mitte der Stadt katapultiert. In der Nacht vom 9. zum 10. November 1989 stürmen tausende OstBerliner über die Oberbaumbrücke und den Grenzübergang HeinrichHeineStraße nach SO 36. Henschel hat dieses Kapitel Kreuzberger Geschichte nicht mehr belichtet. Er beendete seine Arbeit noch vor der Wiedervereinigung. Was er hinterläßt, ist ein unersetzbarer Schatz zum Verständnis des NachkriegsBerlin, insbesondere Kreuzbergs.

Martin Düspohl

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