Kreuzberger Chronik
Mai 2005 - Ausgabe 67

Kreuzberger
Die Trilogie vom Yorckschlösschen - Teil 3:

Wolfgang Rügner

Ich habe immer gerne mehrere Sachen gleichzeitig gemacht


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von Hans W. Korfmann

Titelfoto: Michael Hughes

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Rudy Stevenson kann sich nicht mehr erinnern, wie das damals war mit dem Wirt vom Yorckschlösschen. Its such a long time ago! Wolfgang Rügner erinnert sich noch genau an diesen Typen mit den schwarzen Haaren und dem schwarzen Bart, der nie was sagte. Der immer nur da hinterm Tresen in der Ecke stand und grimmig aus der Wäsche guckte. »Komischer Kerl«, dachte Rügner und kümmerte sich nicht weiter um ihn. Das Yorckschlösschen mit seinem Linoleumboden und seinen Trinkern war damals sowieso keine besonders attraktive Kneipe. Bis dann die Mittwochskonzerte stattfanden. Und Rügner mit seiner Bluesband im Schlösschen zu spielen begann. Da machte der Wirt vom Schlösschen dann doch den Mund auf.

Heute ist Wolfgang Rügner einer der drei Ehrengäste des Lokals und einer der besten Freunde des Wirtes. Es vergeht kaum ein Tag, an dem er nicht mal bei Olaf reinschaut. Er wohnt auch nicht weit, genaugenommen im gleichen Haus. Manchmal fliegen sie zusammen nach New Orleans zum Jazzfestival oder zum Karneval nach Köln. Nicht nur Olaf und er, sondern die ganze Truppe. Dann ziehen sie mit ihren Instrumenten eine Woche lang durch die Kneipen. Eine kölschtrinkende, jazzspielende, ausgelassene Männergesellschaft, in New Orleans oder in Köln. Die Musiker sind eine Gesellschaft, in der sich Wolfgang Rügner wohl fühlt. »Vielleicht, weil ich mit einem Frauenüberschuß großgeworden bin.

Der Überschuß bestand aus vier Frauen: Die Mutter, die Großmutter, die Tante Berta von der Diakonie, die immer noch in ihrer komischen Tracht herumlief, und die andere Tante, die nach dem Krieg auch nicht wußte, wohin. Den Vater hat Wolfgang nur einmal gesehen, und der erste Mann, der sich über die Wiege mit dem Baby beugte, war nicht der Vater, sondern ein Amerikaner. Es war eine schwierige Zeit, der Frieden war erst einen Monat jung, und vor dem Haus stand eine amerikanische Kolonne, als Frau Rügner bemerkte: Das Kind kommt. Der Opa holte, eskortiert von zwei amerkanischen Soldaten, die Hebamme, und auch, wenn die Besatzer in Heidenheim ihr überschüssiges Essen lieber fortwarfen als es den Deutschen zu geben, konnte es sich einer der beiden nicht verkneifen, einen Blick auf das Baby zu werfen. So zumindest erzählte man später.

Dieser Mann muß eigentlich ein Schwarzer gewesen sein. »Wahrscheinlich kam er aus New Orleans und spielte Posaune«, sagt Wolfgang Rügner. Denn als Wolfgang fünfzehn Jahre später diese Musik hörte, die sogar die dicke Stahltür im Keller der Schule durchdrang, blieb er wie angewurzelt stehen, drückte sich eine halbe Stunde lang vor dem Proberaum der Schulband herum, bis er sich endlich traute und klopfte. Was er gehört hatte, war Jazz. Die Schulband ließ ihn rein, Wolfgang saß da und »war selig!« Das war etwas anderes als die Klavierlehrerin im Haus der Tanten und Mütter, die ihm jedesmal auf die Finger schlug, wenn er die falsche Taste erwischte. Es war auch etwas anderes als der christliche Posaunenchor der Kirche, in dem Wolfgang Rügner Flügelhorn und Tuba blies. Das war so eine Musik wie auf dieser Single, die er sich gekauft hatte, obwohl sie daheim gar keinen Plattenspieler hatten. Weshalb er, wenn ein Besuch bei Bekannten anstand, immer diese Single dabei hatte. Das klang ein bißchen so wie dieser schwarze New-Orleans-Jazz, dieser unvergleichliche Sound, den George Lewis spielte, den heute kaum noch jemand kennt, aber der Rügner noch immer fasziniert, dem zuliebe er noch heute Tausende von Kilometern zurücklegt und bis nach New Orleans fährt.

Der kleine Wolfgang mit Opa
Foto: Privat
Die Schulband nahm den begeisterten Tubisten aus der christlichen Truppe unter ihre Fittiche, und als eines Tages in der Schulband der Posaunist ausfiel, kramte Wolfgang auf dem Dachboden der Kirche nach der verbeulten Posaune, von der einer erzählt hatte. Mit der »Dumpling Washers Jazz Band«  benannt nach dieser Heidenheimer Anekdote, derzufolge Napoleon die schwäbischen Knöpfle so wenig mundeten, daß er sie kurzerhand in die Gosse geworfen haben soll; woraufhin die tapferen Schwaben den Unrat von ihren geliebten Knöpfle wuschen und sie dem Franzosen noch einmal auftischten, dem es plötzlich zu munden

1963 als Posaunist der Dumpling Washers
Foto: Privat
Marley den Reggae, und die Bands, mit denen er spielte, hießen IG Blues, Clinch oder Fichterock, er spielte Schlagzeug, Saxophon, Mundharmonika. 1971 stand Rügner mit Clinch erstmals in einer dieser verrauchten Berliner Kneipen, er spielte im Roten Punkt, im Orpheus oder im Leierkasten, er spielte auf den wackligen Bretterbühnen der Kreuzberger Straßen- und Hinterhoffeste und verdiente sich sein Geld mit Musik. Zwei Jahre lang tingelten sie durch die Kneipen, Wolfgang Rügner machte zwei Zeichentrickfilme für das Sandmännchen, zeichnete Comics, layoutete, arbeitete als Briefträger und Gemüsefahrer, bis dieses Zeitungsprojekt endlich Geld abwarf. Bis es bei zitty den ersten Lohn gab, 500 Mark für jeden. 1978 war das, ein wichtiges Jahr in der Biographie Rügners: Die Blue Bayou Jazzband wurde gegründet, die Frau, die Rügner ein Jahr zuvor geheiratet hatte, und mit der er noch heute glücklich ist, brachte das erste von drei Kindern zur Welt. Alles, was damals begann, ist geblieben: die Frau, die Kinder, die zitty und die Blue Bayou Jazzband. Mit Wolfgang Rügner an der Posaune. Und manchmal mit einer Legende als Stargast an der Gitarre: Mr. Rudy Stevenson.

Daß Rügner damals bei der zitty landete, lag genaugenommen auch wieder nur an diesem Heidenheim an der Brenz, diesem Ort irgendwo zwischen Aalen und Ulm. Denn kaum hatte Rügner seinen Job bei der schwäbischen Werbeagentur gekündigt, kaum hatten sich die vier Musiker von der Schwäbischen Alb in den VW gesetzt und waren nach Berlin durchgestartet, weil die Kunde endlich auch bis zu ihnen vorgedrungen war: »in Berlin, da gehts ab« - kaum also waren sie in der Hauptstadt und hatten sich bei Freunden einquartiert, da sagte schon einer zu Rügner: »Du, da in der Fichtestraße, da wohnt auch einer aus Heidenheim.«

Er meinte die Fichtestraße Nr. 15, die heute einem der ehemaligen Bürgermeister Berlins gehört, und vor der Rügner und Konsorten damals noch in aller Ruhe ihren Hanf pflanzen konnten, weil kein Polizist das Gewächs hätte identifizieren können. Das Haus war ein angenehmes Haus mit einer Hundeklappe in der Tür der Ladenwohnung und einem Keller, in dem man mit der Band proben konnte. Da wohnte der Schwa-be Hans Birzele, und als Wolfgang dem Landsmann seine Aufwartung machte, saß der gerade über einem Stapel von Papier und klebte die 1. Ausgabe eines Stadtmagazins namens HOBO zusammen. HOBO, das sollte so etwas werden wie das Londoner Time Out, eine Stadtillustrierte mit Kleinanzeigen, dem kompletten Berlinprogramm, politisch korrekten Cartoons und kleinen, aber kritischen Textbeiträgen. Die Redaktion bestand aus zwei Leuten, aber nach einigen Jahren saß Hobo, der Vorläufer der zitty, am Kudamm und hatte eine Auflage von 16.000 Stück erreicht. »Willst Du nicht ein paar Comics für uns zeichnen?«, fragte der Landsmann von der Alb, der sich noch an Rügners Plakate erinnerte,

Rüpner (2. vo. links) mit Kommilitonen, 1967
Foto: Privat
Jetzt kam ihm die »Fachschule für Graphische Berufe« doch noch zugute. Diese »glücklichen Jahre« in Stuttgart, 1965 bis 1968, als sie mit ihren Zeichenblöcken in den Weinbergen saßen und am Abend den frischgebrannten, noch warmen Obstler tranken. Als er die Pardon entdeckte  »das war der Olymp für uns!« , seinen ersten Fotoroman klebte und abends im Keller Rock spielte. Selbst seine Lehrzeit bei »Plus Werbung«, wo sie an der Frühjahrskollektion von Salamander arbeiteten und in 3 Wochen 300 Staffeleien und dreihundert Bilder für die dreihundert Schaufenster des Schuhverkäufers herstellen mußten, hatte ihren Sinn.

»Wir lernten, zu improvisieren und mit minimalem Aufwand den größtmöglichen Effekt zu erreichen!« Um das war der rechtzeitig fertig zu werden, bauten sie »Trockenregale« und fönten ihre Kunstwerke mit Heißluft. « Als Jahre später einmal die Maschinen der Druckerei ausfielen und die komplette zitty ungedruckt blieb, klebte Rügner mit seinen Graphikern innerhalb von vier Stunden eine »Notausgabe« zusammen, die am nächsten Tag pünktlich erschien. 25 Jahre hat er die Titelbilder fürs Stadtmagazin gemacht, dem Heft das Gesicht gegeben. Als die zitty mit dem Tagesspiegel fusionierte, war Rügner einer der letzten jener wilden 13, die damals mit der zitty begannen, als der Hobo-Herausgeber in der Redaktion eine Stechuhr einführte und die 13 streikenden Mitarbeiter kurzerhand auf die Straße setzte. Berlin war eben anders als die Schwäbische Alb, »da gings richtig ab!« Natürlich standen sie auch in Heidenheim mit schwarzen Trauerbändern an den Knien vor dem Kino, als Jimi Hendrix starb, aber in den Kellern von Berlin spielte man den Rock noch ein bißchen härter, der kam direkt aus dem Untergrund. Als Rügner mit einer Band namens Fichterock eines Freitags  sie waren quasi die Vorband zu Jacky & the Strangers, die am Samstag dort auftraten  in der Tarantel spielte, schlich sich der neue Mann hinterm Tresen an sie heran und erzählte, daß er im Keller, in der alten Kegelbahn, einen Schießstand eingerichtet hätte, und daß er Knarren habe, alle Kaliber. »Der Mann hieß Volker Weingraber Edler von Grodeck« und war ein Spitzel, der jeden anquatschte. Wenige Tage nach dem Schmücker-Mord verschwand er, dafür tauchte sein Steckbrief in jeder Zeitung auf. Dabei hatte die Polizei ihn verschwinden lassen. Der Spiegel berichtete später, daß der Edle von Grodeck mit neuer Identität ausgestattet als Weinbergbesitzer in Italien lebe.

So war Politik immer ein Thema, auch für Rügner. Politisch aktiv, im wörtlichsten Sinn, ist der Schwabe in Kreuzberg jedoch nicht geworden. Obwohl er immer Stellung bezogen hat. 1987, anläßlich des 10jährigen Jubiläums der zitty, schrieb er: »Die Medienlandschaft hatte auf die Jugendrevolte unisono ablehnend, ja hysterisch reagiert. Nichts von all dem, was dem :Terroristenpack9 wichtig und veränderungsbedürftig schien, fand sich auf den Seiten der etablierten Tageszeitungen wieder.« Das wollte zitty ändern. Auch wenn sie «nie zum Sprachrohr einer bestimmten politischen Gruppierung« wurde, so ließ sie doch endlich die zahlreichen Bürgerbewegungen der Stadt zu Wort kommen.

Es gab aber nicht nur Hendrix und die Scherben, in einer großen Stadt gab es immer auch den Blues. Es war im Leierkasten, wo sich eines Tages die Olympia Brass Band aus New Orleans mit der White Eagle Band aus Kreuzberg zur Session traf. Und da war er plötzlich wieder, dieser urige Sound. Rügner stand und lauschte. Und ein Jahr später flog er mit den Weißen Adlern ins Mekka der schwarzen Musik, nach New Orleans, aufs legendäre Jazz & Heritage Festival. Er wohnte auf dem Dach einer Kneipe, die einem Deutschen gehörte, und in der man jeden abend den Jazz spielte.

»Ich habe immer gerne mehrere Sachen gleichzeitig gemacht!«, sagt Rügner, »ich mache Musik genauso gerne wie ich die zitty gemacht ha-be.« Rügner bläst, zeichnet, malt; er hat, als die Mauer fiel, die Farben genommen, die Pinsel, ein Buch mit märkischen Sagen, und ist losgezogen. So wie damals in die Weinberge. Und hat gemalt: Aquarelle von Alleen, Seen, Feldern, Wäldern, Trabbis ... Nebenbei entstand Essen und Trinken in Brandenburg, ein Sonderheft der zitty.

»Der Mann ist ein Multitalent«, sagt Olaf Dähmlow, der Wirt vom Yorckschlösschen, und er meint es ernst. Rügner winkt ab, zieht die Brechtsche Mütze, ohne die er nur ungern aus dem Haus geht, noch etwas tiefer ins Gesicht. Er weiß, er hat viel gemacht. Aber viele Worte verliert er auch nicht darüber. So wie der alte Stevenson, und so wie Olaf, damals, als er die ersten Male hinterm Tresen stand.

Ob Wolfgang Rügner, hätte er nicht ausgerechnet in Heidenheim, einen Monat nach Ende des Krieges, das Licht der Welt erblickt, hätte nicht ausgerechnet ein schwarzer Amerikaner über seiner Wiege gestanden, hätte er nicht den Jazz durch die Stahltür der Heidenheimer Schule dringen hören, hätte er nicht mit seiner Staffelei in den Weinbergen der Schwäbischen Alb gesessen, und hätte er nicht für Salamander in drei Wochen dreihundert Staffeleien bauen und dreihundert Bilder malen müssen, und hätte er nicht eines Tages das Yorckschlösschen mit diesem schweigenden Wirt betreten, ob aus diesem Rügner jemals ein Musiker, ein Zeichner und ein Berliner Zeitungsmacher geworden wäre, ist eine nicht ganz überflüssige Frage. Natürlich wäre er das. Vielleicht wäre alles ein bißchen anders gewesen. Aber ein weißbekittelter Abteilungsleiter in Untertürkheim, oder ein kleiner Angestellter in einer Aalener Werbeagentur, ein unmusikalischer Antialkoholiker in Stuttgart oder Ulm oder um Ulm herum, so ein kleiner schwäbischer Häuslebauer, der hätte nur schwer aus ihm werden können.

Hans W. Korfmann

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