Kreuzberger Chronik
Juni 2002 - Ausgabe 38

Peter Paul Zahl Kreuzberger
Peter Paul Zahl, Autor




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von Hans W. Korfmann

Fotos: Wolfgang Krolow

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Zahl ist verärgert, weil Bio, der smarte Moderator einer gleichnamigen Fernsehgesprächsrunde, die Kärtchen mit den falschen Fragen ausgewählt hat. Es gab genug interessante Episoden in Zahls kurvigem Lebenslauf, die könnte er erzählen wie ein Buch. Die beiden Beraterteams hatten auch einige von ihnen auf die Kärtchen geschrieben, die Bio ständig in der hohlen Hand hält. Aber der lächelnde Moderator wählte die falschen. So gingen »kostbare Sendesekunden verloren«.

Kostbar, denn Peter Paul Zahls Wort zählt etwas. Eine Mark Honorar pro Zahl-Wort hält er für angebracht. Und wenn er sich schon aus dem fernen Jamaika ins einstige Wohnortland BRD bewegt und all diese lästigen Auftritte für den Taschenbuchverlag absolviert, dann, bitte schön, möchte er wenigstens in einer anspruchsvollen Unterhaltungssendung auftreten. Und nicht bei einem Moderator, der in fünf Minuten dreimal wiederholt, daß Georg von Rauch nicht erschossen wurde, sondern zufällig zu Tode kam.

Generell ist Zahl verärgert, wenn Journalisten schlecht vorbereitet sind. Er möchte ernst genommen werden. Als Autor. Auch, wenn er sich im jüngsten Roman als »Erzschelm Peter Paul Zahl« bezeichnet. »Wo ist denn Ihr Aufnahmegerät, Sie müssen das mitlaufen lassen, sonst habe ich immer ein ganzes Heer von Mikros vor der Nase!« – So etwas sagt der Schelm in Zahl, aber hinter diesen Schelmen stecken auch immer ihre Autoren, diesen Figuren schauen realexistierende Persönlichkeiten über die Schulter. »Wo haben Sie denn Ihre Fragen?«, fragt er den schlecht vorbereiteten Journalisten, und fügt hinzu: »Das haben ja die Gymnasiasten, bei denen ich letztlich war, noch besser gemacht!« Als Zahl realisiert, daß sein Gesprächspartner nicht einmal sein neues Buch gelesen hat, sondern lediglich einige Gedichte aus uralten Zeiten, da verschwindet der Schelm in Zahls Augenwinkeln für einen Moment gänzlich. Zahl ist ein toleranter Mensch, aber Toleranz hat ihre Grenzen. Die rücken im Alter bekanntlich näher zusammen.

Und Zahl ist jetzt 58 Jahre alt, er hat sich in seinen Büchern (nach eigenen Angaben etwa 30 Stück, das jamaikanische Kochbuch mitgerechnet), seinen Interviews und Erinnerungen längst fertig eingerichtet. Da hat die Welt ihre – oder zumindest seine – Ordnung, in der es die Guten und die Schlechten gibt, die Verfolgten und die Verfolger, die Geschichtenerzähler und die Journalisten – die Künstler also und deren Parasiten, die schlecht vorbereitet zum Interview kommen, ihn wegen der alten RAF-Geschichten foltern, ihn nach längst historischen Schußwechseln ausfragen und wissen wollen, weshalb er im Gefängnis zu schreiben anfing. Und wollen Vergleiche ziehen zwischen ihm und Cervantes, der seinen Weltbestseller mit der traurigen Gestalt immerhin auch hinter Gefängnismauern begann.

Dabei fing Zahl gar nicht erst während der Haft mit dem Schreiben an. »Ich hab nur halt im Knast irrsinnig viel geschrieben. Um besser überleben zu können«, sagt der Autor auf dem knirschenden Sofa der »ältesten Männer-WG Berlins«, in der er einmal gewohnt und in der er noch jedes Mal Quartier genommen hat, wenn er in Berlin war, »Übersetzungen, Aufsätze, den Roman Die Glücklichen, immens viele Beschwerden, Gedichte«, sogar ein Theaterstück für Claus Peymann, über Johann Georg Elser – »denn der war damals in Deutschland noch erschreckend unbekannt!«

Auch die Geschichte seines letzten Romans beginnt im Gefängnis. Anläßlich einer Buchpräsentation sagt er es so: »Ich habe im Knast viele Menschen getroffen, die wunderbar erzählen konnten. Nur Schreiben konnten sie nicht!« Weshalb ihre Geschichten nicht weniger interessant oder wichtig waren. Einer dieser Erzähler war der sogenannte »Domräuber«. Zahl nahm sich die Zeit, ihm zuzuhören, hat nachrecherchiert und dessen Erzählung aufgeschrieben. Wie eines Tages zwei Männer zu dem unbedeutenden Taschendieb kamen und sagten: »Wir haben einen Job für dich, eine halbe Stunde, 5000 Mark«. Wie er die Alarmanlage im Dom außer Kraft setzte und am Ende dafür ins Gefängnis ging, als habe er den Coup geplant und die Schätze verhökert. Während die Drahtzieher, unter den zugekniffenen Augen der Staatsanwaltschaft und einer 55-köpfigen Sonderkommission, weiter frei herumspazierten. So wie Presse und Justiz einst diesen Peter Paul Zahl wider besseres Wissen zum Terroristen gemacht hatten, so hatten sie auch diesen Mann aus Jugoslawien zum spektakulären Domräuber gemacht.

Schon in seinem ersten »großen, also vielbeachteten« Buch geht es um einen Verlierer, einen Betrogenen. »Von einem, der auszog, um Geld zu verdienen« war die Geschichte eines Fachhilfsarbeiters, der zu Hause keine Arbeit fand und nach Berlin kam, denn in der Stadt Berlin sollte alles besser sein. Als er bei einer DDR-freundlichen Demonstration verletzt und verhaftet wird, schickt ihn die Stadt wieder zurück: »Dich wollen wir hier nicht!« Man schrieb das Jahr 1970, und selbst der Spiegel, ein damals linksorientiertes Nachrichtenmagazin, scheute sich nicht, Zahls Roman zu loben. Obwohl das »ein sehr pessimistisches Buch war«. Wieder erfuhr da einer das Unrecht am eigenen Leib, drohten Staat und Macht finster am Schicksalshimmel. Die Welt Zahls hat ihre strenge Ordnung, und die cleveren, am Ende dennoch betrogenen Figuren sind Zahl sympathisch. Sie ähneln ihm. Dennoch kommt der Autor zu dem Schluß, vor allem ein Sprachrohr zu sein und die Geschichten anderer zu erzählen. Autobiografisch? »Nie!« Und auch Herr Raddatz von der ZEIT attestierte ihm: »Ein Schriftsteller von behutsamer Menschenfreundlichkeit«. Zahl formuliert seine Arbeit als ein »sich an den realexistierenden Personen und wahren Geschichten Entlangtasten und die Lücken Ausfüllen« – abdichten, dichten. Mit Autobiografischem? »Nie!« Zahl grinst. Er ist der Erzschelm. Man weiß selten, wie ernst er es gerade meint. Doch oft, wenn der Held im Roman zu Wort kommt, vermeint man, den Autor sprechen zu hören: »Wer aber nicht von seinem außergewöhnlichen Talent überzeugt ist, bringt es nicht zum Genie. Und das wollte ich werden. Unter allen Umständen.«

Peter Paul Zahl
Foto: Wolfgang Krolow
Peter Paul Zahl
Peter Paul Zahl
Die Chancen dafür standen nicht schlecht, als sich Zahl 1966 der Gruppe 61 anschloß, als er »auf der Flucht vor der Bundeswehr nach Berlin zog, wie das damals viele intelligente junge Menschen taten«, und 1968 beim Kreuzberger Kurzgeschichtenwettbewerb den 2. Platz belegte. Als Zahl sich in der Urbanstraße die erste Druckmaschine aufstellte, eine alte Rotaprint, um seine Gedichte, Plakate für Kreuzberger Künstler und Flugblätter für außerparlamentarische Oppositionsgruppen zu drucken. Als er die Werkstatt später nach Britz verlegte, weil sie für eine großformatige Untergrundzeitschrift, die legendäre 883, eine DIN-A2-Presse und mehr Platz benötigten. Und natürlich durch die Presse und die Öffentlichkeit, die allmählich auf Zahl aufmerksam wurde, den man wegen seiner Druckerzeugnisse immer wieder vor den Kadi zitierte. Denn in der Regel hatte die systemfeindlichen Traktate niemand unterschrieben, es gab keinen presserechtlich Verantwortlichen, weshalb stets die Drucker den Kopf hinhalten mußten. Als man bei einer der Razzien in Zahls Druckerei einen Aufruf zur Gründung der Roten Armee Fraktion vorfand, der in »der gefährlichsten 883 aller Zeiten« gedruckt werden sollte, saß er mit acht Genossen vor Gericht. Die Nummer wurde nie veröffentlicht, doch Jahre später, als Zahl wegen der berühmten Schießerei mit der Polizei vor Gericht stand, verlas die Anklage den gesamten Wortlaut dieses Aufrufes. Denn »einer, der so etwas druckte, der mußte ein Böser sein«. Wieder war jemand »nachweislich zu Unrecht verurteilt« worden.

Zahl hat nie in Kreuzberg gelebt, aber sein Leben wäre vermutlich anders verlaufen, hätte es diesen Stadtteil an der Mauer nicht gegeben. P.P. Zahl, wie sie ihn nennen, oder Pepe, ist eine Kreuzberger Legende. Er war bei der Besetzung und Einrichtung des Bethanien dabei, tauchte im Rauch-Haus und im gerade eröffneten SO36 auf, in Mühlenhaupts Leierkasten und in der Weltlaterne. Er war ein Hansdampf in allen Gassen, immer, wenn in Kreuzberg etwas geschah, hatte er die Finger im Spiel.

Doch nicht nur die Legenden und Anekdoten, die sich seit den wilden siebziger Jahren um die schillernde Figur Zahls ranken, erklären den Ruhm und förderten seine Karriere als Schriftsteller. Sein Erzähltalent hat tiefe Wurzeln und ist älter als die Geschichten um Kreuzberg. Schließlich wurde schon des kleinen Peter Pauls erstes Manuskript verbrannt. Nicht öffentlich, und nicht wegen seines politischen Inhaltes, sondern wegen der Streptokokken, die durch Peter Pauls Manuskript aus der Wuppertaler Kinderklinik hätten entweichen und in der Öffentlichkeit verbreitet werden können, aber immerhin: Schon damals, ans Krankenbett gefesselt, schrieb der an Scharlach erkrankte Schüler seinen ersten Roman, eine Art Märchen, »von einem armen Jungen, der sich in ein reiches, schönes Mädchen verliebte, das ihm aus dem Elend heraushalf – wenn ich mich recht erinnere«.

Daß Zahl schon im Kindesalter zu schreiben begann, ist kein Wunder. Schließlich kommt er nicht aus irgendeinem Dorf in Mecklenburg, sondern aus Feldberg, wo vor dem Krieg sein Großvater und danach immerhin Hans Fallada Bürgermeister gewesen waren. Darüber hinaus war Peter Pauls Vater ein bekannter Kinderbuchverleger, »die Grafiker und Schriftsteller, die bei uns ein- und ausgingen«, waren eben etwas anderes als die Bauern vom Dorf. Der Metzger sagte über die Schweine in Vater Zahls Stall, die allesamt die Namen irgendwelcher Päpste trugen: »Der Zahl ist ein Akademiker, der versteht nichts von Schweinezucht.«

Womöglich hätte Peter Paul eines Tages den Paul Zahl Verlag übernommen. Aber die Geschichte kam anders. Man hat ihn »im Alter von 9 Jahren aus der DDR verschleppt – nicht aus dem Staat, sondern aus meiner Heimat. Da gab’s 3 Autos, Großmütter und Urgroßmütter, Buchhalterinnen, Hausangestellte mit 13 Kindern …« – Verschleppt, weil schon Peter Pauls Vater ein Systemgegner war, den man loswerden wollte. Ein Querkopf, wie der Sohn. Seine Devise lautete: »Wenn du eine Ideologie hast, dann muß es eine sein, die noch zu deinen Lebzeiten verwirklicht werden kann.« An die sozialistische Ideologie aber glaubte der Vater nicht, weshalb die Familie 1953 aus der demokratischen Republik ausgewiesen wurde. Als man dem Verleger dann im Goldenen Westen Jobs als Parkplatzanweiser und Fahrstuhlführer anbot, »hat das seine Liebe zur BRD ungeheuer bekräftigt!«, sagt Peter Paul Zahl und grinst. Schelme neigen zum Spott.

So kam der junge Zahl vom sozialistischen Regen in die kapitalistische Traufe. Das prägte. Und das wurmte und nagte. So blieb dem jungen Mann doch gar nichts anderes übrig! Was hätte, nach diesem Lebenslauf, nach den langen Jahren im Gefängnis anderes aus ihm werden sollen als ein Schriftsteller? Schon der Untersuchungsrichter kam, sah und sagte: »Der Mann braucht eine Schreibmaschine!« Und auch, wenn es der Schelm im Autor ist, der die kleine Anekdote aus dem Untersuchungsgefängnis erzählt – Zahl setzt hinzu: »Ad 1: Ich wurde ja bei der Verhaftung schwer verletzt und hatte einen Trümmerbruch des linken Oberarms. Ad 2 sah meine Handschrift schon immer etwas apathisch aus« –, läßt er keinen Zweifel daran, daß das Schreiben in seinem Fall nicht nur Beruf, sondern Berufung ist. Das weiß sogar der Protagonist des Domraubs, als er auf Seite 93 von poetischen Gefühlen überfallen wird, ein Gedicht niederschreibt und am Ende etwas skeptisch dazu bemerkt: »Am besten, ich geb’ mein Machwerk PPZ, der kann etwas machen daraus.«

Peter Paul Zahl in der Galerie am Chamissoplatz
Zahl liest in der Galerie am Chamissoplatz, 1981 Foto: Wolfgang Krolow

Man kann Zahl mit Blaise Cendrars, Francois Villon, sogar dem schreibenden Cervantes im spanischen Gefängnis vergleichen – es stört ihn nicht. Bescheidenheit paßt nicht zu einem Mann wie PPZ, der gern im Stehen spricht, lebhaft gestikuliert, zum schmalen Gesicht ein schmales, weißes Leninbärtchen trägt und den Journalisten sagt, er »werde 117 Jahre alt und sterbe unter einer Frau!« Die Journalisten mögen diese Sprüche, sie geifern geradezu danach und drucken sie fett. Nur Biolek zog ein anderes Kärtchen, Biolek sprach immer nur von der Vergangenheit. Obwohl das Thema lautete: »Zurück ins Leben!«

Zahl wäre »Vorwärts ins Leben« vielleicht lieber gewesen. Zwar lebt der Erzähler gut von der Vergangenheit, doch fällt sie ihm immer wieder in den Rücken. Im Leben wie beim Schreiben. In den Romanen wie in den Gesprächen. Es ist, als zöge er sie am Gummiband hinter sich her. Und als schleudere sie ihn immer wieder auf denselben Ausgangspunkt zurück.

Denn im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen ist Zahl, während er ein Jahrzehnt »im Knast« verbrachte und die zwei folgenden im Exil, ein Moralist geblieben – der Zeit zum Trotz, die außerhalb der Gefängniswände und im fernen Deutschland weiter voranschritt. Heute sitzt er, ein politischer Autor, auf Jamaika, weit weg vom Osten oder Westen oder dem Lauf der deutschen Geschichte, blickt aufs Meer und schreibt – noch immer mit dem steil erhobenen Zeigefinger und mit seiner alten Schreibmaschine, an der längst der Rost nagt. Schreibt gegen die alten Feinde an, die ihm treu geblieben sind, und gegen den letzten realexistierenden Feind, den er auf dieser Insel noch hat: das Salz. Es kommt mit dem Wind vom Meer, dringt durch jede Ritze, klebt überall, fraß den alten VW und den neuen Computer auf, frißt ihm sogar die Nägel aus der Hütte mit Blick aufs Meer. Würde er die alten Tasten nicht jeden Tag einige Stunden bewegen, würde er sie nicht ölen und immer wieder reparieren, wäre die Schreibmaschine bald unbrauchbar.

Schon deshalb kann er nicht aufgeben, der Mann mit dem spitzen Bärtchen und seiner treuen Olympia, schon deshalb muß er weiterschreiben, immer weiter gegen die alten, immer wieder vor ihm auftauchenden Feindbilder, der hagere Ritter mit dem eisernen Willen – so eisern, daß ihn selbst der salzige Atem der See nicht anfressen wird. <br>

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