Kreuzberger Chronik
Oktober 2001 - Ausgabe 31

Strassen, Häuser, Höfe

Die Brachvogelstraße


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von Michaela Prinzinger

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Nein, Brachvogel ist keine ornithologische Gattungsbezeichnung, sondern eine philologische Reminiszenz an den Schriftsteller Albert Emil Brachvogel, geboren 1824 in Breslau, verstorben 1878 in Berlin. An und für sich bezeichnet »Brachvogel« eine real existierende Schnepfenart mit langem, abwärts gebogenen Schnabel, die auf feuchten Wiesen und in der Tundra nistet. Auch zu Albert Emil paßt dieser Name, allein schon aufgrund der unzähligen Flugversuche und Bruchlandungen in seinem Leben.

Die gemütskranke Mutter prägte seine harte Jugend, abgebrochene Ausbildungen als Buchhändler, Graveur und Bildhauer führten Albert Emil schließlich nach Wien, wo er sich – erfolglos, wie sonst – als Schauspieler versuchte. Sein Studium der Geschichte, Philosophie, Literaturgeschichte und Ästhetik brach er ab, nachdem er 1848 an der Revolution teilgenommen hatte. Nach seiner Heirat erfreute er sich nur kurz am Vermögen seiner Frau, einem kleinen schlesischen Landgut, das ihm jedoch bald wieder abhanden kam. Mit Operntexten begann er seine ersten Schreibversuche, die er dann als Journalist weiterführte und zuletzt als freier Schriftsteller zu einer ungeahnten Quantität anhäufte. Hier endlich schien er seine Bestimmung gefunden zu haben: Über zwanzig Bühnenstücke flossen aus seiner Feder, vierundzwanzig Romane, acht Bände Novellen, acht Biographien, eine zweibändige »Geschichte des Königlichen Theaters zu Berlin« sowie etliche Erzählungen und episch-lyrische Dichtungen gehen auf sein Konto.

Um als freier Schriftsteller überleben zu können, mußte Brachvogel Tag und Nacht zur Feder greifen. Übereinstimmend berichten jedoch die Biographen, nur ein Theaterstück – nämlich »Narziß« – und ein historischer Unterhaltungsroman – nämlich »Friedemann Bach« – hätten die Zeiten überdauert und auch späteren Generationen noch Genuß bereitet. Was der Herausgeber einer Volksausgabe des »Friedemann Bach« aber gleich wieder relativiert, indem er seine Neubearbeitung, die dem Buch ein »Gegenwartsgewand« verpassen soll, mit folgender Vorbemerkung über Albert Emil Brachvogel rechtfertigt: »… er kleidet seine Dichtung in Brokat, bei dem wir Heutigen als lästige Eigenschaft seine Steifheit empfinden, oder er hüllt sie in ein endloses Spitzengeriesel, durch dessen verwirrende Fülle zum Grund der Dinge sich durchzutasten der Tempomensch unserer Tage nur schwer die Geduld aufbringt.« Und selbst ein wohlmeinender Biograph kann sich nicht enthalten zu bemerken: »Wie alle Werke B.’s verbindet der Roman sehr geschickt theatralische Situationen mit historischem Prunk, schwülstiger Sentimentalität und aufdringlicher Didaktik.«

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Man kann jedoch nicht leugnen, daß Albert Emil zu Lebzeiten sehr erfolgreich war, seine Stücke landauf landab die Spielpläne beherrschten und seine Romane fast jeden Bücherschrank bestückten. Das Trauerspiel »Narziß« wurde in fast alle europäischen Sprachen übertragen und steht an der Spitze der Aufführungsstatistik für das 19. Jahrhundert, und »Friedemann Bach« erlebte bis in die fünfziger Jahre des vorigen Jahrhunderts immer wieder Neuauflagen. Am 14. April 1910 wurde Albert Emil zum Namensgeber einer Straße, die kurz zuvor wegen des starken Verkehrsaufkommens auf dem Blücherplatz und der damaligen Belle-Alliance-Brücke gebaut worden war, um die Alexandrinenstraße mit der Mittenwalderstraße zu verbinden. Er soll in der Gegend dort dereinst logiert haben, zudem war er eine Zeitlang Redakteur des »Johanniter-Wochenblattes«, was möglicherweise ein ganz neues Licht auf die geographische Nähe zwischen Johanniter- und Brachvogelstraße wirft.

Wilhelm Friedemann Bach (1710-1784), auch der »Hallesche Bach« genannt, war der älteste Sohn Johann Sebastian Bachs. Offensichtlich war Brachvogel von dieser tragischen Figur in der Familie Bach äußerst fasziniert. Nach der Ausbildung durch seinen Vater ging dieser Wilhelm Friedemann Bach nach Dresden und erfüllte hier wie auch später in Halle als bedeutender Organist die vom Vater in ihn gesetzten Hoffnungen. Friedemann Bachs Kompositionen, so erzählte man, seien ähnlich schön wie die Johann Sebastians gewesen, doch mit dem Tod des Vaters im Jahre 1750 schien er jeden familiären Halt verloren zu haben. Er lehnte eine Berufung nach Darmstadt ab und gab 1764 seine Stellung in Halle auf, um als freischaffender Künstler unabhängig arbeiten zu können. Getrieben von wirtschaftlicher Not verkaufte er unter Preis kostbare Autographen seines Vaters und ging 1771 nach Berlin. Hier wurde Friedemann Bach zwar als Organist anerkannt, seine Kompositionen jedoch fanden keinerlei Beachtung. Er starb völlig verarmt am 1. Juli 1784 in Berlin. Die Sonaten, Fantasien, Klavier- und Orgelkonzerte des Sturm- und Drang-Künstlers zeichnen sich durch handwerkliche Präzision und auch das richtige Gespür für die neue Empfindsamkeit aus. Dennoch sind es vor allem die Werke seiner jüngeren Brüder, die man heute kennt und spielt.

Brachvogel pickt mit dem untrüglichen Gespür des Unterhaltungsromanciers das anrührende Schicksal Friedemanns aus der Biographie des großen Bach. Bereits der erste Absatz läßt die poetische Wucht von Brachvogels Beschreibungen ahnen: »Wer, von Halle kommend, den nördlichen Teil des lieben Thüringens betritt und das helle, regsame Weimar grüßt, hat kaum einen Begriff von der Stille und Abgeschlossenheit, in der das Bethlehem deutscher Poesie zu Anfang des 18. Jahrhunderts lag.«

Am Schluß des Romans schwingt Brachvogel sich zu einer Sterbeszene auf, die das Vater-Sohn-Verhältnis in nahezu biblisches Licht taucht: »Ein verklärender Schein überflog sein Antlitz, voll und strahlend umfaßte sein Blick die alte Zigeunerin und richtete sich dann weit, weit in überirdische Fernen: Mein Vater, sei gegrüßt! Friedemanns Auge brach, Towadei sank schluchzend zusammen.« <br>

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