September 2025 - Ausgabe 272
Reportagen, Gespräche, Interviews
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Die letzten Riesen
von Michael Unfried |
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Foto: Postkarte
Sie sind die letzten Zeugen aus jenen Tagen, als Berlin zur Stadt heranwuchs, als Lenné sich über die Landkarten beugte und dort, wo noch Kühe weideten und Kohlköpfe standen, Straßen einzeichnete. Sie eskortierten die breiten Alleen des Tempelhofer Damms und der Gneisenaustraße: heute riesige, vor Sonne und Regen schützende Eichen, Platanen, Linden. Lebensraum nicht nur für Vögel und Insekten, sondern auch für den Menschen. Seit einigen Jahren hat er damit begonnen, die letzten von ihnen aus dem Stadtbild zu entfernen: oft hundertjährige Bäume mit einem Stammumfang von mehreren Metern und Kronen, die ganze Straßenschneisen zwischen den Häusern beschatten. Den Stadtoberen bereiten sie vor allem Sorgen. Sie stehen ihren Plänen im Weg, ihre Pflege ist mühsam und ihre schweren Äste sind in den stürmischen Zeiten des 21. Jahrhunderts eine Gefahr für jeden deutschen PKW. Aus diesen und anderen profanen Gründen stehen dort, wo zuvor die Riesen in den Himmel ragten, immer öfter nur noch hässliche Stümpfe. Amputierte. Kolateralgeschädigte. Heinz Kleemann war einer der ersten in der Gneisenaustraße. Wie viele andere aus der Nachbarschaft zwischen Mittenwalder- und Zossenerstraße stand er fassungslos vor dem Schlachtfeld. Am Morgen des 17. Februar hatten die Holzfäller ihre Sägen angeworfen, vier Tage später lagen 18 riesige Bäume auf dem Boden. Kleemann erzählt von einem alten Mann, der sich auf seinen Stock stützte und tatsächlich weinte: »Ich wohne seit 50 Jahren an der Straße. Ich habe gesehen, wie die Bäume Jahr für Jahr größer wurden. Ich hätte nie gedacht, dass die mal vor mir sterben müssen...« Kleemann schrieb an das Bezirksamt: »In der vergangenen Woche wurden ohne vorherige Ankündigung und Information der Anwohnerinnen und Anwohner umfangreiche Baumfällungen im Bereich U-Bahnhof Gneisenaustraße vorgenommen….«
Inflagranti - Foto: Heinz Kleemann
Durch die Proteste angeregt wandte sich auch Hannah Sophie Lupper von der SPD an die Grünen und fragte, wie eigentlich die »Bürger*innen über die Baumfällungen« informiert worden seien. Von 14700 Flyern war die Rede. Gesehen hat diese Flyer bisher niemand. Stadträtin Annika Gerold antwortete, »Fragen zur Informationspraxis« könnten »durch das Bezirksamt nicht beantwortet werden«. Im Vertrag seien die BVG und ihre Partner von den Wasserbetrieben und der Netzwerkgesellschaft mit der Aufgabe betreut worden. Allerdings habe es am 12. Februar in der Urbanstraße eine Informationsveranstaltung gegeben, die auf nebenan.de beworben worden sei. Auch auf der Website der BVG sei unter der Rubrik Herzensprojekte die Planung erörtert worden. Auch Marie Hoepfner vom Verein Mog61 erfuhr von der Veranstaltung nicht etwa durch einen der 14.700 Flyer, sondern weil ihr der Saalvermieter in der Urbahnstraße davon erzählte. Sie ist eine der wenigen, die dabei war. »Aber da stand sowieso alles schon fest. Wir dachten, wir hätten noch Zeit, um etwas dagegen zu unternehmen, aber vier Tage später legten die los. Das war wie ein Überfall!« Dass unter den 20 Besuchern des Informationsabends dennoch vor allem Vertreter aus Politik und Bauwirtschaft und nur wenige Anwohner gewesen seien, wurde im Bezirksrathaus bedauert. Da sei »wohl etwas schiefgelaufen.« Weniger wortkarg wurde über die Neupflanzungen informiert und einen »Werteersatz von 260.000 Euro«. Annika Gerold sagt: »Ich denke, das ist ein guter Verhandlungserfolg.« Ihr amerikanischer Kollege würde sagen: »We made a good deal!« Allmählich entstand so der Eindruck, dass das Konsortium aus Senat, BVG & Co den Weg des geringsten Widerstandes wählte und seine Pläne der Öffentlichkeit aus Angst vor Protesten bewusst vorenthielt. Doch nicht nur die Bürger, auch die Politik wurde vor vollendete Tatsachen gestellt. Antje Kapek, seit 15 Jahren im Abgeordnetenhaus, beklagt, dass der Bahnhof jahrelang Thema war, dass sie aber von der Entscheidung der BVG, alle Bäume zu fällen, erst kurz zuvor erfuhr. Ebenso wie der Bezirk, der nun aufgefordert war, innerhalb kürztester Zeit für die Umsetzung der Entscheidung zu sorgen und mittels Tiefbauamt zur Tat zu schreiten. Der Senat hat entschieden. »Der Bezirk ist nur der Baulasträger«, ausführendes Organ und Buhmann. Die BVG aber kann sich zurücklehnen. Auf Anfragen antwortet sie stereotyp mit Textbausteinen: »Die Arbeiten an unseren teils über 100 Jahre alten Anlagen sind unerlässlich, um auch in Zukunft einen stabilen und zuverlässigen Betrieb gewährleisten zu können. Darüber hinaus wird der U-Bahnhof künftig durch ein modernes Erscheinungsbild überzeugen…« Wer mehr wissen und bei den Projektleitern nachfragen möchte, erhält Absagen: Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass unsere Projektverantwortlichen und Fachleute vorrangig mit anderen Aufgaben betraut sind und daher nicht (…) zur Verfügung stehen.« Wozu noch viel reden? Schließlich gab es, laut BVG, ohnehin keine Alternative zum Kahlschlag. Auch Dr. Götz Vollmann, Lehrbeauftragter der Ruhruniversität in Bochum und Spezialist für Tunnel- und Leitungsbau, sieht das »relativ alternativlos.« Es gäbe zwar die Möglichkeit einer Schleierinjektion – »da spritzt man über kleine Kanäle eine dünnflüssige, zement- oder acrylhaltige Flüssigkeit zum Abdichten über die Tunneldecke - aber Platanen haben die Eigenschaft, in alle Richtungen zu wurzeln, sowohl in die Tiefe als auch in die Breite. Es könnte sein, dass die Wurzeln den kompletten Tunnel überwachsen haben!« Und dann wird es schwierig. Außerdem ist da noch das »Problem der Gewährleistung.« Die Baufirmen müssen Garantie leisten. »Wir veranschlagen beim Tunnelbau heute eine Lebensdauer von 100 Jahren und mehr. Da ist kein Platz für Flickschusterei, und da wird die Firma wahrscheinlich gesagt haben: Entweder wir machen das komplett oder gar nicht.« Thomas Knoll, Sachverständiger für Baum- und Bodenmanagement, wurde schon oft als Gutachter zu ähnlichen Projekten gerufen. »Die erste Frage überhaupt lautet: Gab es Voruntersuchungen? Haben die Wurzeln tatsächlich die Isolierung angegriffen? Das wäre einmal zu beweisen. Alles andere ist äußerst nachlässig.« Das sieht der Spezialist aus Bochum ähnlich. »Man muss sich die Sache schon genauer ansehen, bevor man die Sägen anwirft«. Doch von Probeschachtungen hat im Bezirksrathaus niemand etwas gehört. Auch Dr. Turgut Altug, Sprecher für Naturschutz im Abgeordnetenhaus, hat nach Alternativen zum Kahlschlag gesucht. »In München hat man einen 200 Jahre alten Baum ausgegraben und wieder eingepflanzt.« Möglich ist vieles, aber es kostet. Altug ist einer der wenigen, der von der Informationsveranstaltung der BVG am 21. Februar erfuhr und auch dort war. Er stellte schon 2024 angesichts der geplanten Sanierung die Frage: Schlägt das Baurecht wieder mal das Baumrecht? »Die Sache interessierte mich. Ich habe gefragt, warum sämtliche Bäume auf einmal gefällt werden müssen und ob es nicht möglich ist, schrittweise vorzugehen und einige Bäume zunächst zu verschonen. Die hätten einen Sommer lang noch Schatten spenden können. Doch es hieß, es gäbe keine Alternative, jedenfalls keine finanzierbaren!« Dann fügt Altug hinzu: »Als Abgeordneter muss ich mich darauf verlassen können, dass es stimmt, was die landeseigenen Betriebe sagen.« Besonders schlecht zu sprechen auf die Umweltpolitik der BVG ist Christiane Heiß von der Bürgerinitiative Baumentscheid Berlin. Sie möchte die Anzahl der Bäume in der Stadt verdoppeln. Bäume sind natürliche Klimaanlagen, sie ziehen Wasser aus dem Boden und geben es durch die Blätter wieder ab. Dadurch senken sie die Temperaturen in ihrer Umgebung oft um mehrere Grad. »Aber die BVG hat überhaupt kein Interesse am Baumerhalt. Und auch im Berliner Haushalt ist für die Baumpflege kaum Geld übrig. Berlin hat in den letzten zwei Jahren doppelt so viele Bäume gefällt wie neue gepflanzt.« Das Argument dafür ist immer das gleiche: »Zu teuer!« Deshalb sollen, so der Plan der Bürgerinitiative, die Berliner im September 2026 per Volksentscheid bestimmen, wie viele Bäume ihre Stadt haben soll. Der schärfste Kritiker ist Heinz Kleemann. Der erprobte außerparlamentarische Oppositionelle beklagt in einem Schreiben an Stadträtin Gerold die bewusste Desinformation der Verantwortlichen und hält die vielzitierte und entscheidende Behauptung, dass die Bäume auf der Tunneldecke stünden und diese einsturzgefährden, für irreführend. »Auf dem Tunnel standen keine Bäume.« Sie standen daneben. Kleemann kritisiert, dass vor Ort keinerlei Auskünfte über die geplanten baulichen Maßnahmen aushingen, und fragt: »Wurden unabhängige Gutachten bzgl. des Naturschutzes eingefordert? Wurden durch unabhängige Gutachter Aussagen zum Zustand der Bäume und zu den Auswirkungen des Kahlschlags gemacht? Welche Mehrkosten würden bei einer Sanierung ohne Fällen entstehen? - Wir bitten um eine zeitnahe Antwort, Heinz Kleemann.« Antwort erhielt er einen Monat später: Die Stadträtin schrieb unter anderem, dass nach ihrem »Kenntnisstand« per Postwurfsendung auf die Informationsveranstaltung hingewiesen worden sei, und dass »Bauexperten verschiedene Sanierungsmethoden« geprüft hätten, jedoch »keine wirksame Alternative gefunden« worden sei. Kleemann reagierte auf die unpräzisen Antworten postwendend: »Die behauptete Postwurfsendung wurde meines Erachtens weder vor noch während der Fällaktion an die Bewohnerinnen und Bewohner im Bereich Gneisenaustraße und Umgebung verteilt.« Es habe sich in der Nachbarschaft niemand gefunden, der einen solchen Brief erhalten hat. Erst am 26.2., nach der Fällaktion, sei im Eingangsbereich zur U-Bahn eine Ankündigung der Baumaßnahmen an einige Müllbehälter geklebt worden. Kleemann insistiert: »Welche Experten haben wann welche Alternativen geprüft? Wer hat anhand welcher Unterlagen und Untersuchungen für jeden einzelnen Baum Erhalt und Fällung geprüft?«, wie es gesetzlich vorgeschrieben ist. Abschließend stellt Kleemann fest: »Obwohl die bezirklichen Behörden sofort nach Beginn der Fällmaßnahmen angerufen wurden, ist erst man erst nach Abschluss der Arbeiten und aufgrund massiver Interventionen tätig geworden.« Antwort auf dieses Schreiben erhielt Kleemann keine mehr.
Was gucken Sie denn so? - Foto: Sönke Tollkühn
Nächte lang haben Anwohner auf den Baumstümpfen Kerzen angezündet, eine Mahnwache errichtet. Sie vermuten, dass die Bäume hätten stehen bleiben können und nur gefällt wurden, weil sie Platz machen mussten für die Maschinen der Bauunternehmer. Weil sie einem unheilvollen Konsortium aus Berliner Verkehrsbetrieben, Netzbetreibern, Wasserbetrieben, Politikern und Baufirmen im Wege standen. Die letzten Riesen. |









