September 2025 - Ausgabe 272
|
Kreuzberger
Christophe Kotanyi Ich bin hiroshimatraumatisiert
von Waltraud Schwab
|
|
|
|
Kotanyi wohnt im dritten Stock eines Gründerzeithauses am Gleisdreieck. Unterhalb seines Fensters verlaufen die Gleise der U2. Im Minutentakt ziehen die gelben Metallschlangen vorbei. Den ohrenbetäubenden Lärm der vorbeiratternden Hochbahn kann er ausblenden. Meistens. Vor zwei Jahren starb Kotanyis Lebensgefährtin und hinterließ geschätzt 7.000 Bücher und unzählige Stapel an Manuskripten. Beim Ordnen des umfangreichen Materials kommt er seiner Elise wieder nahe. »Am meisten vermisse ich sie, wenn ich Musik höre.« Elisabeth Meyer-Renschhausen war eine unberechenbare Denkerin. Sie lotete jene Nischen aus, die vom kapitalistischen Denken und Handeln nicht besetzt werden können: Frauengeschichte, Sozialgeschichte, Klima, solidarische Ökonomie, Subsistenzwirtschaft - Gemeinschaftsgärten. Über letztere wusste kaum jemand so viel wie sie. Beim Allmende Kontor auf dem Tempelhofer Feld war sie Ideengeberin, beim Interkulturellen Garten Rosenduft an der Möckernstraße auch. Den gibt es, weil sie und Kotanyi mit ein paar Mitstreiterinnen den Zaun auf der Bahnbrache aufbrachen und anfingen, Kartoffeln zu pflanzen. »Der ehemalige Bürgermeister von Kreuzberg hatte zu Elisabeth gesagt, er könne nichts machen, aber wir sollten Druck auf ihn ausüben von unten.« Mit Kartoffeln haben sie Fakten geschaffen. Meyer-Renschhausens Art zu denken und die Welt zu sehen, war die Schnittstelle zwischen Christophe Kotanyi und ihr. Denn er, einst Astrophysiker, dann Übersetzer, ist nicht minder unangepasst wie Elise. Kotanyi wurde 1949 in Ungarn geboren. Die Familie wohnte mitten in Budapest. »Wir spielten auf der Straße.« Die Zeiten waren schlecht, »es gab kaum was zu essen. Die Leute waren spindeldürr. Was es noch gab, haben die Sowjets mitgenommen.« Panzer, die ständig um den Block fuhren, gehörten zum Alltag. Es gab willkürliche Verhaftungen und Misshandlungen. Die Eltern waren stalinkritisch, kommunismuskritisch, kapitalismuskritisch. Seine Mutter sei extrem nervös gewesen, sein Vater fast schon paranoid. Niemand habe mehr Kinder bekommen wollen, sagt Kotanyi, und als seine Mutter doch noch einmal schwanger wurde, wollte sie abtreiben. Doch dann starb Stalin. »Zur Feier des Tages behalten wir das Kind«, entschieden die Eltern. »Meine Schwester verdankt Stalin, diesem Diktator, der für den Tod von mindestens 20 Millionen Unschuldigen verantwortlich ist, ihr Leben.« Nach der Niederschlagung des ungarischen Volksaufstandes gegen die sowjetische Besatzung 1956 geht sein Vater, ein von Kinderlähmung gezeichneter Architekt, mit seiner Familie ins Exil nach Belgien. Dort schließt sich der Vater den Situationisten an, den »Situs«, wie Kotanyi sagt. Diese Gruppe aus Künstlern, Denkern, Architekten, die spontane, subversive Aktionen durchführte und Manifeste verfasste, sei dem Vater wie auf den Leib geschnitten gewesen. »Er kannte alle.« Alle, das sind in den Jahren, in denen es die Situationisten gab – von 1957 bis zur Auflösung 1972 - so um die 70 Leute gewesen. Die Gruppe beeinflusste auch Beuys. »Mein Vater und er kannten sich. Beuys war verrückt, aber mein Vater war auch nicht ohne.« Weil der Vater alle kannte, kannte Christophe sie ebenfalls und verliebte sich schon als Junge in Alice Becker-Ho, die Frau des Situationisten-Gründers Guy Debord. »Die Situs waren eine wilde Bande. Promisk. Familie zählte nicht. Meine Mutter konnte sie nicht leiden.« Die Intellektuellen, die nicht nur die Linke, sondern auch die Popkultur beeinflussten, seien die Ersten gewesen, die das Denken von Marx aktualisierten, sagt Kotanyi. Marx habe sich mit der Herrschaft der Ware beschäftigt. Die Situs analysierten, dass der Kapitalismus nicht mehr vom Warenfetischismus angetrieben werde, sondern »vom Spektakel. Wir sind doch alle nur noch Schauspieler. Beim Einkaufen. Im Autoverkehr. Im Parlament. Alles ist nur noch Spektakel und die Menschen sind Statisten«, sagt er. Die Situs haben ihre Ideen in poetischen Parolen verdichtet. »Arbeitet nie!« ist so eine. Oder: »Unter dem Pflaster liegt der Strand.« Damit wollte man die Diktatur des Autoverkehrs, das Auto-Spektakel, stören. Nachdem die Parole auf Wände in Paris gesprüht worden war, hätten Leute nachts das Pflaster des Boulevards Saint Michel aufgerissen. »Sie haben die Parolen verstanden.« Die Situationisten wollten die Macht im Alltag zurück. Mit dieser Forderung haben sie auch die Studentenrevolten in Paris beeinflusst. Die Studierenden sprachen über alles. »Was ist Alltag? Nicht, dass ich ein Buch schreibe, sondern dass wir über interessante Sachen reden.« Und die Kulturindustrie entfremde uns von uns selbst. Deshalb hätten die Situationisten auch nie definiert, was sie eine Situation nannten. »Sie ist ein Riss im Spektakel«, erklärt Kotanyi. Als Kind hätte er die Ideen der Situs aufgesogen, ohne sie zu verstehen. »Lass«, sagte die Mutter zum Vater, »die Kinder verstehen es nicht.« – »Jetzt nicht, aber später schon«, antwortete der Vater. Solchermaßen durcheinandergebracht hat Kotanyi dann Physik studiert. »Ich wurde von den Situs beauftragt, die Gegner kennenzulernen.« Denn auch die Wissenschaft sei ein Spektakel. Die Physik sei faszinierend, aber er wollte eigentlich nie Physiker werden. »Als Generation nach Hiroshima wussten wir, Physiker sollen Waffen bauen.« Die Astrophysik schien ein Ausweg. Eine Zeitlang arbeitete Kotanyi in Sternwarten rund um den Globus, erforschte schwarze Löcher. »Die Natur weiß Dinge, zu denen wir unfähig sind«, sagt er und nennt als Beispiel Kernfusion. »Kernfusion, das ist die Sonne, und Kernspaltung die Bombe.« Als die Astrophysik unter Ronald Reagan ab 1985 in den Fokus der Kriegsführung rutscht, gibt Kotanyi seinen Beruf auf. »Ich bin hiroshimatraumatisiert.« Er will nichts tun, um Krieg zu fördern. Ob er keine Angst habe, vor dem Nichts zu stehen, habe eine Kollegin ihn damals gefragt. »Doch, schon,« hat er geantwortet.
Christophe Kotanyi und Elisabeth Meyer-Renschhausen bei einer Ausstellung im Kesselhaus - Foto: Privat
Die beiden haben sofort gemerkt, dass sie seelenverwandt sind. Sie sprach von Gemeinschaftsgärten wie von einem Riss im Getriebe kapitalistischer Verwertungslogik. Die Gärten werfen keinen Gewinn ab, sie dienen dem Leben und nicht der Wirtschaft. Kotanyi hat das sofort in sein Denken übersetzt: »Gemeinschaftsgärten sind eine Situation, die sich dem Spektakel verweigert.« In Berlin schafft es Kotanyi, die beiden Enden seines Lebens zusammenzuknüpfen: die Suche nach dem Riss im Spektakel und die Liebe. Kotanyi hat Seminare gegeben an der Berliner Volksbühne zur digitalen Diktatur. Die Menschen hören ihm zu. Begeistert. Kotanyi sagt wunderbare Sätze. Sätze wie: »Wenn ich Fantasie und Wirklichkeit nicht mehr unterscheiden kann, dann ist das Rausch.« Kino zum Beispiel sei so ein Rausch. »Rausch ist das ewige Jetzt. Aber wir brauchen den Rausch. Die Welt ist so hart.« Kotanyi kann Sätze sagen, die man nicht mehr vergisst. Er kann reden wie ein Buch. Aber er kann auch still sein. Sich über eine Pflanze beugen. Eine, die Elise gepflanzt hat. In einem der wilden Schrebergärten der Reichsbahner auf dem Gelände des Gleisdreiecks. Dass deren Gärten nicht platt gemacht wurden zugunsten von Fußballplätzen, dafür hat seine Elise denen, die um den Erhalt kämpften, in endlosen Sitzungen Argumente geliefert. Dieses etwa: Freizeitsport macht nur dann Sinn, wenn man eine Arbeit und also auch Freizeit hat. Arbeitslose aber - und viele Angestellte der Reichsbahn, die zur DDR gehörte, wurden arbeitslos nach der Wende - brauchen eine sinnstiftende Aufgabe. Das Gärtnern sei eine. Am Ende blieben die Gärten, die so wunderbar wild und verwunschen sind. Der Sportplatz aber wurde auf dem Dach des Baumarkts an der Yorkstraße angelegt.
Foto: Holger Groß
|









