Kreuzberger Chronik
September 2025 - Ausgabe 272

Helmut

Vom billigen Sauren


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von Horst Zimmermann

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Helmut liebte den Rotwein. Vom Weißen hielt er nicht viel. Gern bestellte er in Lokalen, die etwas auf sich und ihre Weinkarte hielten, ein Glas Rotwein – und laut: »Bitte vom billigen Sauren!» Wenn der Kellner stirnrunzelnd das Glas brachte, erklärte er charmant: »Sparen ist ja nicht geizig, hat Onkel Emil immer gesagt.«

Helmut hatte immer eine Flasche vom billigen Sauren auf dem Klavier stehen. »Wenn du betrunken Klavier spielen willst, dann musst du auch betrunken üben, dann klappt‘s.«, antwortete er auf meinen Einwand, dass ich betrunken keinen Ton mehr treffen würde. Dann ließ er sich, in einem Lauf bei den hohen Tönen angekommen, nach rechts vom Hocker fallen, blieb liegen und stellte sich tot. War er tatsächlich betrunken oder spielte er nur? Das war auch für Freunde, die seine kleinen Slapstickeinlagen kannten, nicht immer leicht zu entscheiden. Manchmal nämlich war er tatsächlich betrunken. Damit die Leute es nicht merkten, überließ er sich bedenkenlos der Schwerkraft, wohl wissend, dass sein Ruf darunter nicht leiden würde, da alle glaubten, er spiele den Betrunkenen nur. Dass er tatsächlich zu viel erwischt hatte, erkannte man daran, dass die Flasche nicht mehr oben auf dem Klavier, sondern leer auf dem Boden stand, und dass der dürre Mann ganz oben auf dem Klavier zusammengekauert schlief.

Eines Tages, als Helmut mal wieder vom billigen Sauren getrunken hatte, fiel ihm bei einem Transport das Klavier auf den Fuß. Die BZ hatte gerade von Killerwespen und tödlichen Allergien geschrieben. Und alles, was nur eine Wespe von weitem gesehen hatte, füllte die Notaufnahme des Urban-Krankenhauses. Helmut musste warten. Wenn man ihm glauben darf, über zwei Stunden. Eine tröstende weitere, zeitverkürzende Flasche Wein stand nicht zur Verfügung. Der Fuß schwoll an, Helmut wurde es schummerig und dann sah er, wie sich eine dünne Spur des billigen Sauren über das Linoleum der Notaufnahme bahnte. Als wäre der Wein durch ihn durchgeflossen und hätte einen Ausgang durch das Loch gefunden, das er in der Sohle seiner alten Schuhe hatte. Es war jedoch Blut. Eine Schwester, von den selbsternannten Wespenallergikern genervt, bemerkte die Blutspur: »Oh Gott, Sie haben ja wirklich etwas!« So wurde Helmut vor´m Verbluten gerettet.

Vom billigen Sauren wurde Helmut manchmal auch etwas übermütig. Er erzählte mir öfter, dass er früher Jugendmeister im Turnen gewesen war und dass er immer noch einen Flickflack machen könne. »Mach doch mal,« sagte ich. Und fluppdiwupp, flickte er und flackte. Mit über 70! Ich war wirklich beeindruckt. Allerdings war das auch sein letzter Flickflack. Ich machte mir Vorwürfe, weil er mehrere Wochen lang nur noch in gebückter Haltung durchs Viertel lief. Aber schuld war eigentlich der billige Saure!

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