Kreuzberger Chronik
September 2025 - Ausgabe 272

Geschichten, Geschichte, Gerüchte

Schleiermachers Amouren (1):
Religion und schlanke Hüften



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von Eckhard Siepmann

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Friedrich Schleiermacher




Eine munter plappernde Schar Frommer und weniger frommer bewegt sich 1825 auf einem blumenreichen Weg zwischen Äckern, der jetzigen Schleiermacherstraße. Friedhofseinweihung! In der Menge die beiden Theologen Schleiermacher und Marheineke, die sich nicht grün sind. Die Leute der Dreifaltigkeitsgemeinde in Friedrichstadt sind erleichtert: »Gut, dass wir die Toten jetzt weghaben, die verpesten die Luft und wir stecken uns noch an!« - »Auf dem Friedhof vor dem Halleschen Tor ist alles schon voll.«

Jenseits des Weinbergswegs, der jetzigen Bergmannstraße, betreten sie den neuen Totenacker. Schleiermacher, Hauptprediger der Gemeinde, hält die Ansprache, skeptisch beäugt von seinem Kollegen Marheineke. Ist der Chef überhaupt ein Theologe, ist er nicht eher ein verkappter Heide, ein Erotiker vielleicht? Heute liegen beider Knochen unweit voneinander auf dem Friedhof. An den konservativen Marheineke erinnert nur noch der nach ihm benannte Platz nahe dem Gräberfeld, während Schleiermacher bei theologischen Nerds von Tokio über Seoul bis Berkeley hoch geschätzt ist als Entrümpeler des Christentums und Wegbereiter einer weltweiten Religiosität der Zukunft.
Reili
Friedrich Schleiermacher ist 28 Jahre alt und Prediger an der Charité. Er ist zu dieser Zeit schüchtern und theologisch unentschieden. Noch am gemütsbetonten Pietismus festhalten, in dem er aufgewachsen ist, oder den Verlockungen der dogmenverachtenden Aufklärung folgen? Eines Tages erreicht ihn an seinem Arbeitsplatz ein Billet, das sein Leben verändern und einem Umsturz in der Theologie auf die Sprünge helfen sollte: »Ich habe den Auftrag erhalten, Sie zu befragen, ob Sie sich morgen zum Tee und Abendessen bei Professor Herz einfinden können. Hoffentlich werden Sie keine Abhaltung haben.«

Friedrich hat keine Abhaltung, er traut sich, und damit sind die Würfel gefallen. Im berühmten Salon von Henriette Herz trifft er die inspirierten Frauen und Männer des aufgeklärten Berlin. Er entdeckt seine eigene Rede- und Disputgewandtheit, wird selbstsicher und gewinnt Freunde. Allen voran Friedrich Schlegel, Mastermind der frühen Romantik - und »eine rechte Brennnessel«, wie Goethe ihn nennt, - aber auch Henriette Herz, Virtuosin der Kommunikation und berühmt als eine der schönsten Frauen Berlins.

Schlegel erkennt des Freundes Begabung und stachelt ihn an: »Du hast jetzt bald 30 Jahre auf dem Buckel und noch nichts Rechtes geleistet!« Die beiden gründen eine Wohngemeinschaft vor dem Oranienburger Tor und schwadronieren Tag für Tag und bis tief in die Nacht über Philosophie, Religion, Liebe und andere Geheimnisse des Lebens. Was den beiden Twens besonders am Herzen liegt: Erotik und Religion! Sollte es nicht eine Verbindung zwischen beiden geben? Schlegel ist so entzündet von dieser Kombination, dass er Gedanken für einen erotikgetränkten »religiösen Roman« sammelt wie Eichhörnchen Nüsse für den Winter. Und tatsächlich nützt er die kalte Jahreszeit: Im Frühling erscheint sein Roman Lucinde, eine Fanfare auf die romantische Liebe, also die Vereinigung von sinnlicher und himmlischer Liebe.

In dieser Auffassung der Verwiesenheit von Erotik und Religion waren sich die frühen Romantiker Schlegel, Novalis und Schleiermacher einig, auf je eigene Weise feierten sie ihre jeweilige Liebesvision in ihren Werken und versuchten, ihr in ihrer Lebenspraxis nahe zu kommen. Für Novalis ist Liebe »angewandte Religion«, Schlegel nennt Liebe »das stille Verlangen nach dem Unendlichen«, beeilt sich jedoch hinzuzufügen »sie ist auch der heilige Genuß einer schönen Gegenwart.« Der jugendliche Philosoph Schelling wiederum macht sich über die Verbindung von Frömmigkeit und Erotik lustig und höhnt: »Mein einzig Religion ist die, / Daß ich liebe ein schönes Knie, / Volle Brust und schlanke Hüften, / Dazu Blumen mit süßen Düften.«

Schlegel hatte im Herz´schen Salon die Frau seines Lebens kennengelernt, Brendel Veit, die Tochter des Aufklärungsphilosophen Moses Mendelsohn, und, Horror!: Gattin des langweiligen Bankiers Simon Veit. Das literarische Berlin war schockiert. Mit einer verheirateten Frau anbändeln! Und was schreibt der Kerl für obszönes Zeug, und Lucinde, das ist doch die Veit, hier wird aus dem sexuellen Nähkästchen geplaudert!

Tatsächlich nimmt der Autor in seinem weithin autobiographischen Roman kein Blatt vor den Mund: »Wir liebten uns mit ebensoviel Ausgelassenheit als Religion.« - »Auch das Mädchen weiß in seiner naiven Unwissenheit doch schon alles, noch ehe der Blitz der Liebe in ihrem zarten Schoß gezündet und die verschloßne Knospe zum vollen Blumenkelch der Lust entfaltet hat.« Den Zeitgenossen blieb die Spucke weg, ein Shitstorm ging auf den kecken Autor nieder. Diese »Metaphysik des Beyschlafs« war den entsetzten Kritikern zuviel des Guten.

Schleiermacher ließ sich nicht lange bitten; er sprang dem bedrängten Freund durch eine glänzende Veröffentlichung bei, schließlich war er eine Art Pate des Werks. Er möchte die körperliche Liebe vergeistigen und zugleich den Geist erotisieren. Das wurde zur Zauberformel der frühen Romantiker. Den vom christlichen Mainstream aufgerissenen und behüteten Graben zwischen Spiritualität und Sexualität versuchten sie in Theorie und Poesie, aber auch in ihrer alltäglichen Lebenspraxis zu überbrücken.

Was nicht immer gutging. (Fortsetzung folgt)




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