Kreuzberger Chronik
Oktober 2025 - Ausgabe 273

Straßen, Häuser, Höfe

Bergmannstraße 32


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von Werner von Westhafen

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Rückseite Postkarte
Foto: Peter Plewka

Wie oft auf den alten Postkarten aus der Sammlung von Peter Plewka finden sich auf der Rückseite noch die Grußworte der Absender. Auf dieser hier wünscht Karl seinem Freund Ernst »Glück und Segen« zum Geburtstag. Ein kleines Kreuz links neben dem Fenster auf der Vorderseite der Ansichtskarte kennzeichnet Karls komfortablen Wohnsitz mit dem ums Eck laufenden Balkon, drei Stockwerke über der Gross Destillation von Oskar Schulz, der nicht nur Schnaps, sondern auch reichlich Berliner Kindl ausschenkte.

Vermutlich hat der Fotograf, als er das Bild des stolzen Gebäudes aufnimmt, nicht auf das kleine Mädchen in der Heimstraße geachtet, das auf eine Stufe im Mauerwerk klettern musste, um einen Blick durchs Fenster des Bierlokals werfen zu können. War es nur Neugierde, kannte sie den Wirt, oder hatte die Mutter sie geschickt, um den Vater zum Mittagessen abzuholen?

Als das Ehepaar Strehl die Groß Destillation übernahm und das Heimeck daraus machte, waren keine Mütter oder Mädchen mehr auf der Suche nach den Familienoberhäuptern. Und als der Sohn Karl Heinz in den Siebzigern zum Wirt des Heimecks wurde, wurde es regelrecht heimelig in dem Ecklokal, das nie in den Ruf geriet, eine jener zwielichtigen Spelunken zu sein, in der Tag und Nacht getrunken wurde. Kalle öffnete morgens um zehn und schloss irgendwann in der Nacht.

Im Heimeck traf sich die Nachbarschaft. Sie schaute auf dem Heimweg noch kurz auf einen Kaffee oder ein Bier vorbei, so wie der Herr Baum, denn sie alle nur »Bäumchen« nannten. Der kleine Finanzbeamte kam jeden Tag nach der Arbeit mit seiner Aktentasche herein, setzte sich an seinen Platz und sagte in immer gleichem Tonfall: »Ein Bier und ein Korn«. Nach zwei Bier und zwei Korn fragte er dann nach der Rechnung, prüfte den Zettel mit standesgemäß ernstem Blick und ging dann fünfzehn Meter weiter bis zur Heimstraße Nummer Eins, wo er im ersten Stock in einer Zweizimmerwohnung wohnte, in der schon seine Eltern alt geworden waren.

Einen Mittagstisch gab es nicht im Heimeck, dennoch kamen die Nachbarn und die Markthallenhändler vom Marheinekeplatz schon zu Mittag gern auf ein Käffchen oder ein Bierchen zwischendurch vorbei: Der alte Haase vom Wurststand, der Geflügelkrause, der Gutermann mit seinem Lebensmittelstand - die halbe Halle traf sich hier auf ein Bier. Und am Feierabend kamen sie sowieso.

Weil Kalle nicht nur die Statur eines gestandenen Kneipenwirts besaß, sondern zudem ein gelernter Fleischer war, ließ er es sich nicht nehmen, zumindest einmal im Jahr seine Nachbarn mit selbstgepökeltem Eisbein und Sauerkraut zu verwöhnen. Die Plätze am Tisch waren schnell vergeben. Beliebt waren auch die Bouletten, für die allerdings Frau Gisela verantwortlich war. Es waren vielleicht auch diese Bouletten gewesen, die den Polizeichor von der Friesenwache dazu bewogen, jeden Donnerstag im Hinterzimmer des Heimecks zu proben. Manchmal musste die Nachbarschaft beim Kellnern aushelfen, weil die zwanzig Sänger und ihr berühmter Dirigent Herbert Domagalla ständig nach Bouletten und Bier fragten.

Natürlich wurde im Heimeck Skat gespielt, die Musikbox angeworfen und Karneval gefeiert mit einem Preis fürs beste Faschingskostüm. Auch Trauergesellschaften von den Friedhöfen nebenan fanden den Weg ins Heimeck. Die Filmemacher Gabi und Hans Rombach, die ihr Studio im Nachbarhaus Nummer 32 hatten, drehten 1995 sogar eine Jugendfernsehserie im Heimeck: Geheim oder was?

Auch in dem Haus mit dem Filmstudio gab es im Erdgeschoss ein Lokal. Es hieß, des gegenüberliegenden Postgebäudes wegen: Zur Post. Die weibliche Nachbarschaft aus der Heimstraße hätte dort »keinen Fuß hineingesetzt«, erinnert sich eine Nachbarin. Und der Apotheker, der im gleichen Haus mit der Nachbarin wohnt, ergänzt: »100 Jahre Knast auf einem Haufen!« - »Im Heimeck aber«, fährt die Nachbarin fort und winkt mit erhobenem Zeigefinger, »konnte man auch als Frau spät nachts noch vorbeikommen, da gab es nie Probleme.«

In der Spelunke saßen allerdings echte Originale. Im Gastzimmer stand ein Waggon der Modelleisenbahn von Märklin, denn der Wirt hatte die Magnetkupplung erfunden und patentieren lassen. Und es gab einen Film, darauf sah man ihn Arm in Arm mit James Last, damals Deutschlands berühmtester Jazz-Musiker. »Die letzten Jahre hing meistens ein Schild an der Tür: Geschlossene Gesellschaft. Gebechert haben sie trotzdem. Manchmal mussten wir ihnen, wenn sie nachhause wollten, dabei helfen, den Schlüssel ins Schlüsselloch zu stecken, damit sie zuschließen konnten.« Irgendwann klingelte der Wirt im Studio, warf die Schlüssel auf den Tisch und sagte: »Ick hör uff!«

Im Heimeck ging es gutbürgerlich zu. Der Kalle, das sagten alle, »war ne ehrliche Haut.« Mit 61 ist er gestorben. Seine Frau Gisela hat noch ein paar Jahre weitergemacht, aber irgendwann war es vorbei. Dann zog ein Mann aus dem Norden im Eckhaus ein und briet Fische, zwei Jahre später einer aus dem Süden und buk Pizza. Pizza und Bier und Wein gibt es heute noch dort. Aber richtig heimisch ist von den Nachbarn niemand dort geworden, Skat, Eisbein und Bouletten sind nicht mehr, und an den Tischen sitzen Fremde.

Postkarte, Bermannstraße Ecke Heimstraße
Foto: Peter Plewka



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