Oktober 2025 - Ausgabe 273
Reportagen, Gespräche, Interviews
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Wagner in der Unterwelt
von Horst Unsold |
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Foto: Holger Groß
Wer die fünfzehn Treppenstufen zur Katzbachstraße Nummer 21 hinunter steigt, verlässt die oberflächliche Welt mit ihren Fahrrädern, Hunden, Zahnärzten, den verstaubten Schaufenstern der Geschäftsauslagen, die Corona nicht überstanden haben. Wer die Gewölbe des alten Brauereikellers am Kreuzberg betritt, taucht ein in die Unterwelt. Während es vorne an der Kellertür noch nach Bier duftet, das die Kutscher vor vielleicht hundert Jahren offensichtlich in Unmengen auf den Treppen verschütteten, dringt dem Besucher am Fuß der Treppe der gruftige Geruch von rostigem Eisen, feuchten Lehmbacksteinen und alten Möbeln entgegen. Ein dicker roter Pfeil am Ende der Treppe weist streng nach links zu einer Tür, über der in Leuchtröhrenschrift schlicht »Möbel« steht. Daneben ein Schild, das vermeintlich aus Zeiten stammt, als die ersten Supermärkte mit Parkplätzen und Einkaufswagen eröffneten: »Zum Verkaufsraum bitte Wagen mitnehmen!« Doch einen Verkaufsraum gibt es nicht. Auch kein Möbellager. Niemand hat hier sein Sortiment ausgebreitet, weil er etwas anbieten will. Nichts hier unten ist der üblichen Kaufhausordnung unterworfen. Dennoch ist nichts zufällig im Raum. Alles hat seinen Platz. Alles macht Sinn. Da hängt dieses Ding, das aussieht wie die Bilderbuch- rakete aus Peterchens Mondfahrt. Es handelt sich um den etwas verbeulten Tank einer MIG. Darunter hängt der alte Schriftzug der Berliner Schokoladenfirma »Rausch«. Gemeint sein könnte das Rauschen einer vorbeirauschenden MIG 33, der Rausch der Geschwindigkeit, des Fliegens, des Alkohols - oder des Schokoladessens.
Foto: Holger Groß
Das hier unten ist kein Verkaufsraum. Es ist ein Kuriositätenkabinett. Ein Museum. Eine Kunstausstellung. Die Dinge hier unten sprechen für sich, führen ein Eigenleben, stehen miteinander in Bezug. »Das ist ein Ort, an dem sich Objekte begegnen.«, sagt Jakob Wagner, der irgendwann vor zehn, fünfzehn oder zwanzig Jahren damit begann, sich in ausgediente Sachen zu verlieben. »Deshalb kleben hier auch keine Preise dran. Hier treffen Objekte auf Objekte, Menschen treffen Objekte, und Menschen treffen Menschen. Ich muss hier nicht alles verkaufen«, sagt Wagner, der 1990 in Friedrichshain eingeschult wurde, als mitten durch den Schulhof noch die Mauer verlief. Er war einer von denen, die später zur Spraydose griffen und Kunst aus den Mauerresten machten. Einige dieser Mauerteile mit seinen Graffiti haben überlebt, eines steht auf Island, eines am Kollhoff Tower am Potsdamer Platz. Es waren die Jahre, als die halbe DDR auf dem Flohmarkt landete. Und als sich ein paar Leute in den Kopf setzten, das eine oder andere zu retten. Und sei es der Benzintank eines Düsenjägers. Es wurde viel Porzellan zerschlagen damals. Im Osten, aber auch im Westen. Als er hörte, dass Rosenthaler aufgelöst wurde, fuhren sie hin. »Da hörte man den ganzen Tag, wie Geschirr zerschlagen wurde. Zur Preisstabilisierung.« Und bei Hutschenreuther haben sie eine halbfertige Papstfigur gerettet, »da waren die Augen noch nicht bemalt. Der hob gerade den Arm zur Segnung, aber beim Transport kippte er um und verlor zwei Finger der ausgestreckten Hand. Jetzt sah es aus wie das Victory-Zeichen.« Zu den meisten Dingen gibt es solche Geschichten. Auch zu den Plakaten vom Tierpark, die gleich drei Kellerwände in der Katzbachstraße mit großartigen Tierzeichnungen schmücken: Elefanten, Giraffen, Löwen... Wagner hatte sich mit seinen Freunden im ehemaligen Ballsaal von Kliems Festsälen an der Hasenheide eingemietet. »Da war meine Großmutter noch drin, als es ein Kino war. Da kamen ständig irgendwelche Leute herein und erzählten Geschichten von damals.«
Foto: Holger Groß
Auch die Sachen selbst erzählen Geschichten. Die alten Bühnen- und Filmscheinwerfer zum Beispiel! Wagner hat unzählige von ihnen, weshalb ständig Filmausstatter auftauchen und sich Scheinwerfer ausleihen. Oder sie holen die alte Kirchenbank, Ventilatoren, Bürostühle, oder ein paar Exemplare der Zeitschrift Selbst ist der Mann – Do it yourself. Oder diesen wirklich phantastisch uralten und mausgrauen Fernsehapparat, wie man ihn vom Sandmänchen kennt. Oder Bahnhofsuhren, Barhocker oder das Schild, das einmal am Le Parthenon hing, dem Schnellzug, der von Paris – GARE DE LYON – über Lausanne und Bologna bis ans Meer fuhr: Endstation: RIMINI. Jakob Wagner hat ein Herz für Vergangenes. Achtlos Aussortiertes. Ausgedientes. Altes. Selbst die akkurate Arbeit eines Elektrikers, der die ersten stoffummantelten Kabelstränge in einer akkuraten Fünferreihe an die Bierkellerwände legte, hat er nicht achtlos aus der Wand gerissen, sondern zum Objekt gemacht. Auch die eisernen Weinregale der Weingroßhändler Max Gruban & Souchay, die nach den Bierbrauern hier einzogen, sind alle noch da, ebenso wie ein paar staubige Flaschen Weißwein und Trester. Die Familie Gruban gehört zu den letzten privaten Hausbesitzern am Viktoriapark. Die meisten haben an Immobiliengesellschaften verkauft. Anders als die renditeabhängigen Großfirmen konnten die Weinhändler ihre zwei Kelleretagen zu einem fairen Preis anbieten. Die alten Regale und die riesigen Weinfässer, die noch in der unteren Etage stehen, haben sie ihren neuen Mietern geschenkt. Sie haben auch nichts dagegen, wenn die Keller als pittoreske Kulisse für Konzerte oder Lesungen dienen. Wagner hat interessante Leute kennengelernt auf seinem Weg der Zwischennutzungen. Er hatte nie Geld für langfristige Mietverträge und war immer nur in diesen Nachwendelücken. Es begann mit einem nach dem Ende der DDR wertlos gewordenen Büro-Neubau, in dem er mehrere Etagen mietete. Er war in den S-Bahnbögen am Holzmarkt, in Kliems Festsälen an der Hasenheide und fünf Jahre lang in den Flohmarkthallen der Arena. »Ich bin viel umgezogen!« In der Katzbachstraße könnte er eine dauerhafte Bleibe gefunden haben. »Das hier ist riesig!«, sagt Wagner und meint damit nicht nur die 1000 Quadratmeter. Wir waren schon zwei Monate hier drin, da haben wir noch ein Zimmer entdeckt!« Zwei Tage, zehn Leute, ein großer Lkw, dann hatten sie das Meiste hier unten. Seitdem sind sie am Einrichten. Am Phantasieren. Am Spielen. Haben zwischen dem ersten und zweiten Kellerstockwerk eine Rutschbahn installiert. Die holten sie von einem Kinderspielplatz an der Naunynstraße, der abgerissen werden sollte. »Die hätten die zerschnitten und in den Container geworfen!« Als Wagner noch in der Arena war, hatte er ein hölzernes Büro auf Stelzen, und manchmal, wenn unten Kundschaft oder Freunde auftauchten, rutschte er zur Begrüßung mit offenen Armen herunter und fragte: Womit kann ich dienen? Die Keller in der Katzbachstraße sind ideal für Jakob und seine Freunde. An den Samstagen ist hier unten schon richtig Betrieb. Es kommen Sammler, Künstler, Ausflügler, sogar Familien mit Kindern. Alle sind begeitstert. »Das kostet ja nicht mal Eintritt!« |









