Kreuzberger Chronik
Oktober 2025 - Ausgabe 273

Kreuzberger
Martin Deuker

Ich war zur richtigen Zeit am richtigen Ort


linie

von Hans Korfmann

Titelfoto: Holger Groß

1pixgif
Natürlich hat Martin Deuker Köln 75 auch gesehen, den Film über eine Teenagerin, die von einem amerikanischen Jazzmusiker so fasziniert ist, dass sie beschließt, in Köln die Oper zu mieten und ein Konzert zu veranstalten. Als der Pianist am Nachmittag die Bühne inspiziert, schüttelt er den Kopf: Darauf spiele er nicht, das sei der falsche Flügel, er brauche einen Bösendorfer Imperial. Die Abiturientin versucht, in wenigen Stunden den passenden Flügel aufzutreiben. Als alle Versuche scheitern, fasst sie sich ein Herz, klopft an die Hotelzimmertür des Stars und überredet ihn, mit dem kleinen Flügel vorlieb zu nehmen. Während hinter dem Dom bereits die Sonne untergeht und vor der Oper die ersten Besucher erscheinen, beugt sich ein sorgenvoller Klavierstimmer über die Saiten des Instruments. Keith Jarretts Köln Concert wird zur Legende, der Livemitschnitt 4 Millionen Mal verkauft und zur erfolgreichsten Solo-Jazzplatte aller Zeiten.

Ein halbes Jahrhundert später - 2024 - rief Vera Brandes bei Deuker in der Kreuzberger Dudenstraße an. Die echte Vera Brandes, nicht die Schauspielerin. Sie brauche einen Bösendörfer für eine Jubiläumsveranstaltung. Deuker hat verschiedene Flügel im Verleih, auch einen Bösendorfer. Deuker hat fast alles. Wer nach Berlin kommt und einen Klavierstimmer oder einen Flügel braucht, ruft Deuker an.

Deuker und Brandes plaudern am Telefon. Auch er kann eine kleine Geschichte über Keith Jarrett erzählen. Das war 2009, da spielte er in Berlin. »Die Philharmonie hat eigentlich ihren eigenen Stimmer, aber wenn ein Jazzkonzert stattfindet, rufen die Veranstalter gern mich an.«

Drei Flügel hatte Deuker zur Auswahl für den Star vorbereitet. Jarrett entschied sich für »eine echte Gurke. Aber das habe ich schon öfter erlebt, dass die sich einen Flügel aussuchen, der irgendwie blechern oder unharmonisch klingt. Und dann setzen die sich dran und das ist plötzlich ein völlig anderes Instrument. Das klingt plötzlich wunderbar.« Nach der Stimmung lehnte sich Deuker an den Flügel und hörte Jarrett eine Weile zu, aber der Klavierstar wedelte den Deutschen nach einigen Minuten mit lässiger Handbewegung aus dem Saal. Ein Star braucht absolute Ruhe.

Am Abend saß Deuker ganz vorne, »Jarrett spielte, alles wunderbar, und dann, nach einer Stunde und 24 Minuten, - das Konzert kann man auf Youtube nachhören - bricht er plötzlich ab und wendet sich ans Publikum: »Is there any tuner in the audience?« Es ging um einen einzigen Ton, der ihm missfiel.

Deuker erhob sich und ging, vom Gekicher des Publikums begleitet und vom Lächeln des Stars am Flügel empfangen, auf die Bühne und beugte sich über die Saiten. Der Applaus, mit dem er von den Rängen der ausverkauften Philharmonie bedacht wurde, war phänomenal.

Als Gitarrist hatte Deuker selten solchen Beifall. Er stand schon mit 13 auf der Bühne, die Familie hat Musik im Blut. Der Onkel war Chorleiter an der Staatsoper, Martins großer Bruder zupfte bei Ideal den Bass, wenn Annette Humpe vor 20.000 Leuten sang: »Deine blauen Augen machen mich so sentimental...« Und Martin gehörte 1980 im Quartier Latin mit Artischock immerhin zu den Gewinnern des Senats-Rockwettbewerbs, stand mit Kalkowski auf der Bühne und spielte in der Neuen Welt. »Wir hatten den Plattenvertrag vor Augen, aber irgendwie klappte das nie.« Heute spielt er bei Blackmail Berlin. Vor zwei Jahren feierte die Band im ausverkauften Quasimodo ihr 30. Jubiläum.

1980 mit Artischock
1980 mit Artischock - Foto: Jürgen Pittak
Eigentlich ist die Gitarre die erste Geige in seinem Leben. »Ich habe Gitarre gespielt und nebenbei Klaviere gestimmt. Klavier kann ich auch nicht wirklich gut. Musik machen und gleichzeitig Noten lesen, das ist nicht mein Ding. Beim Rock´n´Roll braucht man keine Noten. Die hundert Songs, die wir spielen, hab ich alle im Kopf.«

Klassische Pianisten sind so ziemlich das Gegenteil von Rockgitarristen. Den Gitarristen kann es nicht laut genug sein, aber »Pianisten hören Sachen, die hört sonst kein Mensch! Die gibt es gar nicht. Die sprechen auch eine Sprache, die kein Mensch sonst versteht.« Manchmal auch Martin Deuker nicht. Aber das ist egal. »Hauptsache, du hebst den Deckel und machst irgendwas! Alles Psychologie.«

Das ist auch beim rock´n roll so. »Da war mal so´n Openair-Konzert in der Westcity, 83 glaub ich. Conny Konzack, damals der Manager von Ideal, rief an: Wir brauchen ganz schnell mal nen Stimmer. Kannst du?« Deuker konnte. »Alle anderen hatten abgelehnt, sie könnten doch in 20 Minuten kein Klavier stimmen!« Deuker hob den Deckel, stimmte eine halbe Stunde, und dann gings los. »Die waren happy, dass überhaupt einer kam.«

Seit diesem Tag klingelte ständig Deukers Telefon. »Ich war einfach zur rechten Zeit am rechten Ort. Es gab damals nur drei Veranstalter in Berlin: Loft Concerts, Concert Concept und Albatros. Die haben alles gemacht, Waldbühne, Neue Welt, Metropol.« Und die hatten alle die Nummer des Klavierstimmers aus Kreuzberg. Es dauerte nicht lange, da stimmte Deuker für Joe Cocker, Tina Turner, Elvis Costello.

Martin Deuker steigt die knarrenden Stufen in die Werkstatt hinunter, wo er Hammerköpfe auswechselt, Basssaiten wickelt und sich um seine »Devotionaliensammlung« kümmert. »So was hat keiner!«, Deuker deutet auf die Sammlung seiner Backstageausweise, die er an eine Tür geklebt hat.

Deuker stimmte und stimmte. Bis 1993 ein Anruf kam, der viel veränderte: Man brauchte für die Deutschlandhalle dringend einen Steinway und zusätzlich ein Klavier für die Garderobe. Ob er zufällig so was in der Werkstatt hätte. Den Steinway hatte er nicht, den musste er sich ausleihen. Aber er lieferte und stimmte die beiden Instrumente zur großen Zufriedenheit aller. »Das war der letzte Auftritt von Frank Sinatra in Deutschland. Und der Anfang von Flügelverleih Berlin

Martin Deuker im Klavierverleih
Foto: Holger Groß
Heute stehen in der Dudenstraße glänzende Flügel für den Verleih. Auch ein Steinway, beeindruckende 2,74 Meter lang. Früher standen hier Klaviere zum Verkauf. Deuker restaurierte und reparierte. Schöne Stücke waren dabei, »heute würde ich die nicht mehr weggeben!« Das Geschäft lief gut. 1974, als Deuker zur Ausbildung zum Klavierstimmer und -techniker nach Berlin kam, »da brauchten ja alle ein Klavier im Wohnzimmer, möglichst Gründerzeit, auf keinen Fall was Modernes.«

Fünf Jahre war Deuker als Lehrling bei Manthey, anschließend zwei Jahre bei Piano-Kaiser am Viktoria-Luise-Platz. 1981 machte er sich selbständig, inserierte im Tip und in der Wahrheit. Der erste Laden war in der Bautzener Straße, zwei Zimmer mit Hochbett und vorne die Werkstatt. Nicht weit die Wildnis des Gleisdreiecks. »Da war ich immer mit meinem Sohn spazieren, das war ne echt schöne Zeit damals!«

Drei, vier mal im Jahr kam Kemal aus Istanbul eingeflogen zum Polieren. »Ich musste mindestens zwei Flügel fertig haben für ihn, wegen einem allein kam er nicht. Ein paar Tage, dann flog er wieder zurück. Der war nicht teuer und tierisch schnell, und er polierte mit Schelllack. Kein Hochglanz, aber eine sehr solide Politur. Heute ist das alles Polyester. Kemal war ein super Typ, immer gut drauf. Irgendwann ist er hier am Platz der Luftbrücke umgefallen, Herzinfarkt. Es heißt immer, jeder ist ersetzbar. Das stimmt nicht. Kemal ist nicht ersetzbar«.

Heute hat Deuker kaum noch Klaviere zum Verkauf. Er verleiht lieber. Und stimmt. Zwei Tage die Woche macht er Hausbesuche. Fährt zu jedem, der ein verstimmtes Klavier hat und anruft. Kürzlich war er bei den Grönemeyers im Haus am See. Deuker kennt ihn seit dem erstem Auftritt im Quartier Latin. Als sich Deuker Jahre später wieder einmal über Grönemeyers Yamaha beugte, sagte er: »Erinnerst du dich noch, damals, in der Potsdamer Straße?« – »Na klar, Wahnsinn!« Grönemeyer spielte vor fünfzehn Zuschauern! Total frustriert. Fünf Jahre später waren die Hallen voll. Solche Erlebnisse verbinden.

Dass Deuker schon so lange Klaviere stimmen muss, verdankt er Onkel Martin, dem Chorleiter. Der hatte in der Trierer Musikalienhandlung Kessler gearbeitet. Deshalb steckten die Eltern auch den Sohn ins Musikhaus Kessler, wo er Noten und Schallplatten verkaufte. »Das war nicht sonderlich spannend«, aber der Klavierbauer, der dort angestellt war, nahm ihn mit zu den Hausbesuchen, wenn gestimmt werden musste. Martin trug das Werkzeug. Abrt as war der Anfang.

Vor ein paar Jahren kaufte sich Deuker für Zuhause ein Klavier. Kein wertvolles Stück, ein Niendorf aus einer kleinen Fabrik in Luckenwalde, unweit von Berlin. Er war auf eine Anzeige gestoßen: »Klavier aus dem Musikhaus Kessler zu verkaufen«. Als Deuker das alte Firmenschild der Musikalienhandlung sah, konnte er nicht anders.


Sammlung von Backstageausweisen
Foto: Holger Groß
Jetzt ist er 70 Jahre alt. Seit 50 Jahren schraubt er an Flügeln herum, sorgt sich um ihren Klang. Die Gitarre und steht Zuhause. Sie spielte in Deukers Berufsleben immer nur eine Nebenrolle. Einmal aber…. – »da klingelt das Telefon. Wir brauchen einen Steinway für Fats Domino. Das Equipment steckt auf dem Weg von Wien nach Berlin im Stau. Ob ich einen da hätte. Hab ich! Nach fünf Stunden kommt ein Anruf, der Flügel ist doch noch gekommen. Aber du kommst zum Stimmen, oder? - Ich also da hin, stimme den Flügel und sitze backstage herum, da bekomme ich so ne aufgeregte Diskussion mit: Mensch, was soll´n wir jetzt machen? Die Gitarre von Chuck Berry - der spielte im Vorprogramm! - war im falschen Flieger gelandet. Ich sag so ganz schüchtern von hinten, dass ich so ne Gitarre zuhause habe. Das ham die gar nicht mitgekriegt vor lauter Aufregung. Also sag ichs noch mal: So ne Gibson hab ich zuhause, ne alte Gibson ES 345 - Mensch, Wahnsinn! Kannste die holen? Was willst´n dafür haben. - Ach, egal…. - Da ham die mir nen Preis genannt, der war höher als die Leihgebühr für den Steinway. Möchtest Du die Chuck persönlich übergeben. Ich also rein, Bitteschön, - aber das hat ihn kaum interessiert, der hat die Gitarre genommen, ist auf die Bühne gegangen und hat gespielt. So war der. Leider hab ich sie nicht signieren lassen.« Das war das einzige Mal, dass die Gitarre die Hauptrolle spielte und nicht ein Flügel.

Deuker wird trotzdem weiter Flügel stimmen. »Warum soll ich aufhören?« Im Sommer war er bei Neil Young und Bruce Springsteen und hat ihnen zugehört. Das macht er gerne. Den Traum vom berühmten Gitarristen hat er ausgeträumt. Er sammelt stattdessen weiter Sticker für seine Devotionalensammlung. In seinem Keller sind alle versammelt, die auf seinen Flügeln spielten, Klassiker wie Daniel Barenboim und Aki Takese, Jazz-Berühmtheiten wie Herbie Hancock oder Chick Corea, Rocklegenden wie Marianne Faithful und Peter Gabriel, Sängerinnen wie Liza Minnelli und Barbara Streisand; und all diese Musiker, an deren Flügeln er saß und stimmte, bevor sie vom Applaus umtost die Bühne betraten: Paolo Conte, Elton John, Stevie Wonder, Randy Newman, Eric Clapton... . Martin Deuker hat sie alle aufgehoben, die Backstageausweise seiner Arbeitgeber, die er brauchte, um an seinen Arbeitsplatz zu kommen, Paul Simon, Coldplay, Depeche Mode, Bob Dylan, Bruce Springsteen… - aufgehoben und an die Türen der Kellerwerkstatt gehängt – Queen, Deep Purple, Phil Collins, Sting, Rod Steward, Lionel Richie, Van Morrison... . Zwei Türen sind jetzt schon voll, aber es ist eben noch ein bisschen Platz in seiner Werkstatt, es könnten noch ein paar berühmte Giterristen dazukommen.




zurück zum Inhalt
© Außenseiter-Verlag 2025, Berlin-Kreuzberg