Kreuzberger Chronik
November 2025 - Ausgabe 274

Kreuzberger
Marcus Ludwig

Langweilig war es mit mir sicher nie.«


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von Ina Winkler

Titelfoto: Holger Groß

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Marcus Ludwig sitzt zum Mittagstisch im Restaurant Via He in der Dieffenbachstraße. Das freut einen vorbeikommenden Hund so sehr, dass er zur stürmischen Begrüßung mit seinem Schwanzwedel derart an die Tischbeine trommelt, dass das Mango-Lassi überzuschwappen droht. »Das ist Mathilde, die Wilde. Die kommt immer in die Apotheke, um sich Leckerlis zu holen, und räumt dann mit ihrem Schwanz die Regale leer!« Als nächste kommt eine Nachbarin an den Tisch – »Ach, das ist aber schön, Sie hier zu sehen!« Und danach ein kleines Mädchen: »Bist Du nicht der Apotheker von um die Ecke. Ich kenne dich!«


Apotheker Ludwig erweckt den Eindruck, als säße er seit etwa fünfzig Jahren jeden Mittag an diesem Tisch und sei seit etwa hundert Jahren der Besitzer der Apotheke um die Ecke. Man plaudert mit ihm in vertraulichem Ton, wie bei einer Geburtstagsfeier nach dem zweiten Glas Sekt. »Ich glaube, ich bin schon ein bisschen hier in Kreuzberg angekommen«, sagt Marcus Ludwig. »Wenn ich so durch den Kiez gehe, tuscheln sie: Das ist doch der Apotheker…«

Ganz anders als damals in Neubrandenburg, »2 Stunden nördlich, egal ob mit dem Zug oder dem Auto!« Eine piefige Kleinstadt in Mecklenburg-Vorpommern, in der Marcus Ludwig nie so wirklich angekommen ist. Auch da tuschelte man, aber da war er eben »die Transe von Neubrandenburg.« Das klang etwas anders als »Du bist doch der Apotheker von um die Ecke...«

Marcus war auf dem Gymnasium, als eine Freundin ihn zum ersten Mal schminkte. Woraufhin ihm auf der Straße die Männer hinterherzupfeifen begannen und er das »ganz toll« fand und sich sagte: »Ok, dann machen wir das mal so!« Die Eltern ließen ihn gewähren - vielleicht war das alles ja nur eine Phase des Pubertierenden - und verloren kein Wort über die vermeintlich modische Desorientierung ihres Sprösslings. »Ich war schon als Kind schwierig, meine Eltern haben nicht viel Spaß mit mir gehabt. Ich lag ständig auf dem Boden und schrie, wenn ich nicht bekam, was ich wollte. Andererseits: Langweilig war es mit mir sicher nie!«

Marcus Ludwig hat immer einen Blick für die Vorteile übrig, selbst in scheinbar ausweglosen Situationen. Er ist ein »Optimist«. Neubrandenburg allerdings war wirklich nichts für ihn. »Es ist nicht einfach in Neubrandenburg, wenn man aussieht wie ein Mädchen!« Deshalb beschloss Marcus ein Jahr vor dem Abitur, die Schule zu verlassen und Star-Frisör zu werden. Er fuhr mit Freundinnen und Freunden und dem günstigen Wochenendticket nach Berlin und feierte im Berghain, im Kitcat und im SO36 für fünf Euro ganze Nächte durch. Und überlegte, seine Frisörkarriere am besten bei Udo Waltz zu beginnen. »Aber das klappte irgendwie nicht.« Das Schicksal wollte es anders als er. Und der Frisörladen, in dem er dann ein paar Wochen in die Lehre ging, war auch keine wirkliche Alternative zum Gymnasium: »40 Stunden die Woche für 180 Euro!«, das war nichts für einen wie ihn.

Der Liebe zur Frisur tat dies allerdings keinen Abbruch. Seinem ersten Frisör in Berlin hielt er 20 Jahre lang die Treue. »Der war phantastisch. Da brauchte ich mir nicht viele Gedanken zu machen. Der sah mich kurz an und sagte, wir machen heute dies oder wir machen heute das, aber blondieren tun wir heute nicht. Das sieht gerade ziemlich gut so aus!« Montoya hatte sich einen respektablen Vertrauensvorschuss erarbeitet, er hätte wahrscheinlich auch Marcus, wie siehst du denn heute aus! sagen können, ohne dass Marcus auch nur mit der Wimper gezuckt hätte. »Jetzt bin ich bei Kiezschnitt, die machen das auch super!«

Da es mit der Starfrisörkarriere in Berlin nicht klappte, kehrte der Neubrandenburger reumütig aufs Gymnasium zurück und bestand mit zwei Jahren Verspätung das Abitur. Er absolvierte seinen Zivildienst bei einem Pflegedienst in einem rosa Kittel und mit aufgepufften schwarzen Haaren und einer roten Strähne. »Alle Omis haben mich total gerne gemocht.«

Was aus dem Jungen werden sollte, wusste man nun aber immer noch nicht. Auf keinen Fall wollte er werden, was sein Vater ist: Apotheker. Aber das Schicksal meint es ja meistens anders. »Das hat vielleicht auch tiefere Gründe, dass ich jetzt doch Apotheker bin….«, sagt der Apotheker und überlegt ein bisschen länger als sonst. Eigentlich denkt und spricht er schnell. Manche kommen nicht mehr mit. Zumal er gerne vom Hölzchen aufs Stöckchen kommt und zwischendurch noch vom einen Ast zum anderen springt.

Und dann starb plötzlich Marcus´ Vater. Er stieg aus seinem BMW, sagte zu Marcus´ Mutter, er könne nicht weiterfahren und legte sich ins Gras des Randstreifens. Marcus schaffte es gerade noch rechtzeitig ins Krankenhaus, um sich zu verabschieden. Und nun stand die Mutter alleine da mit der Apotheke. Da sprang Marcus ein. Und weil er nun schon einen Fuß in der elterlichen Apotheke hatte, begann er mit dem Pharmaziestudium. Natürlich in Berlin.

»Ich war aber ein ziemlich quirliger Typ damals«, sagt der Apotheker. Sich auf so eine Sache wie das Staatsexamen zu konzentrieren, fiel ihm schwer. Also musste er sich »sechs Monate einsperren«, keine Parties, keine Freunde, nicht die geringste Ablenkung. Und da saß er dann und schrieb ganze Lehrbücher ab, damit sie sich in seinem fotografischen Gedächtnis eingruben. »Von dort konnte ich die jederzeit wieder abrufen!« Am Ende bestand er mit Bravour und einer Eins in Biologie. »Da bin ich heute noch stolz drauf.« Danach absolvierte er in der Berlin-Apotheke ein Praktikum und fuhr danach mit einer Freundin ein halbes Jahr lang mit dem Bus quer durch Osteuropa bis ans Meer nach Istanbul. »Das war phantastisch. So etwas muss ich unbedingt bald wieder machen.«

Dann begann er bei Hofmann & Sommer, einem Pharmakonzern. Er hatte ein eigenes Büro in Adlershof, ein Auto, mit dem er zwischen Berlin und Bonn hin- und her pendelte, und er verdiente gut. Nebenbei arbeitete er an der Charité an seiner Doktorarbeit und hatte bereits interessante Forschungsergebnisse vorzuweisen. Nach drei Jahren war die Arbeit so gut wie abgeschlossen, da stand er plötzlich vor drei älteren Herren, die ihn mit besorgten Gesichtern ansahen und ihm eröffneten: »Wir müssen Sie jetzt leider zwingen, von unserer Promotionsvereinbarung zurückzutreten.«

Ludwig fragte, warum, weshalb, wieso, aber die Antwort war immer die gleiche: »Wir sind nicht verpflichtet, Ihnen darüber Auskunft zu geben.« Die Forschungsergebnisse, beteuert Ludwig, behielten sie. »Die verschwanden in irgendeiner einer Schublade. Ich weiß bis heute nicht, was dann damit geschehen ist.«

Aber Marcus Ludwig ist Optimist. Er sieht immer wieder Vorteile. Er ist es gewohnt, dass es nicht nur geradeaus geht. »So ein Doktortitel ist eh nur fürs Ego. Als Apotheker brauche ich den nicht.«

Er bewarb sich bei Sanofi, einem ziemlich großen Konzern, und tingelte als Vertreter durch die Arztpraxen, legte Kilometer zurück. »Ach, Herr Ludwig, schön, dass Sie da sind. Frau Doktor hat heute leider doch keine Zeit. Könnten Sie vielleicht morgen noch einmal vorbeikommen?« – »Na klar, total gerne … .«

Sanofi war auch nichts für einen wie ihn. Also kündigte er. »Und dann kam Corona.« Man suchte händeringend Pharmazeuten. Auch für die Impfstation am Velodrom. Marcus Ludwig kam in ein Team aus lauter Doktorinnen und Doktoren, alle nannten ihn jetzt Doktor Ludwig. Wozu noch promovieren? Wie in der Frisörlehre verdiente er wieder 180 Euro - allerdings in der Stunde, nicht im Monat. »Bei sechs Stunden am Tag…. Das kann man gar nicht ausrechnen! Ich habe jedenfalls in drei Monaten das gesamte Geld für diese Apotheke zusammengespart!«

Irgendwann war Corona vorbei, und dann traf er auf diesen Schwaben mit der Apotheke an der Urbanstraße. Eigentlich war Marcus Ludwig nur auf der Suche nach einem Wochenendjob gewesen, aber bei einem Glas Wein sagte der Herr Müller: »Du kannst die Apotheke auch kaufen.« Eigentlich wollte er nicht werden, was sein Vater war. Aber irgendwie macht das Schicksal ja doch immer, was es will.

Deshalb ist Marcus Ludwig jetzt der Kiez-Apotheker, geliebt von Großeltern, Eltern, Kindern und wilden Mathilden. Er ist der von der Körte-Apotheke, der mit den Ohrringen, der, den eigentlich keiner für den Chef hält. Weil da nämlich auch noch der Herr Keller hinter der Theke steht, der Mann mit Stoppelbart, grauen Haaren und einem beruhigenden Ton in der Stimme. Ein echter Apotheker eben!

Nicht so ein junger Mann mit blondierten Haaren, den das Personal weder mit »Chef« noch mit »Herr Ludwig« anspricht, sondern immer nur mit Marcus. Als wäre er der Lehrling. Selbst die Stammkundeschaft hat sich angewöhnt, zu Marcus einfach Marcus zu sagen.

Er macht ja auch keinen Unterschied: Er steht ebenso wie die anderen an der Theke und plaudert mit den Kreuzbergern über ihre Blasenentzündungen, Insektenstiche, Halsschmerzen, Schlaflosigkeit, Hühneraugen, Haarausfall und vor allem die Schmerzen in den Gelenken. Viel geduldiger, viel ausführlicher, viel netter als das zwei Tage zuvor der Arzt tat. »Die Ärzte sind für die Diagnose zuständig. Die Apotheker für die Therapie«, sagt der Apotheker. Und fügt hinzu, dass es wünschenswert wäre, wenn es da mehr Austausch gäbe. »Aber viele Ärzte glauben, sie wären etwas Besseres.«

Marcus Ludwig ist nichts Besseres. Er schiebt Nachtschichten genau wie die anderen auch, bringt den Leuten, die im heißen Sommer auf einer seiner Bänke vor der Apotheke sitzen, ein Glas Wasser, kümmert sich um die Buchhaltung, den Müll, den Garten vor der Apotheke und um das Schaufenster. Das liebt er. Manchmal steigt er lange nach Feierabend noch in die Auslage und inszeniert seine kleine Wunderwelt aus Stofftieren und Fabelwesen, voller Glitzer, Lametta und rosaroten Blüten. »Bei mir zuhause sieht es genauso aus.«

Marcus Ludwig ist angekommen im Kiez. Es sieht so aus, als hätte er die Rolle seines Lebens gefunden. Als er die Apotheke vor drei Jahren übernahm, kamen 70 Besucher am Tag. Jetzt sind es 160. »Ich habe viel gearbeitet. Sehr viel.« Zwei Jahre hatte er keinen Urlaub, letzten Sommer immerhin schon zwei Wochen. Im nächsten sollen es drei werden. Im übernächsten vier…. Wenn er 100 ist - beginnt das Leben.

»Aber in Berlin alt werden will ich vielleicht doch auch gar nicht«, sagt er und denkt nach, ein bisschen länger als sonst. »Es gibt bestimmt noch ganz viele andere tolle Sachen, die man machen könnte.«

Aber das Schicksal meint es ja sowieso sicher wieder anders. Die wilde Mathilde und ihre Zweibeiner aus der Nachbarschaft würde das freuen. Die Mitarbeiter in der Körte-Apotheke auch. Kürzlich tuschelten sie, und als er fragte, was es zu tuscheln gäbe, überreichten sie ihm eine Flasche Wein. »Für den besten Chef der Welt!«


Foto: Holger Groß


Foto: Dieter Peters


Foto: Dieter Peters




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