Mai 2025 - Ausgabe 269
Straßen, Häuser, Höfe
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Liegnitzer Straße 18
von Johannes Groschupf |
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Kleine Geschichte ihrer Bewohner Durch den Bau des Görlitzer Bahnhofs wird die Gegend vor dem Kottbusser- und Schlesischen Tor und am Landwehrkanal als Bauland erschlossen. Bis dahin hat man dort Grünzeug für die Großstädter angebaut. 1866 fahren die ersten Züge, die komplette Strecke führt über Görlitz nach Schlesien, dessen Städtchen bis heute die Straßen bezeichnen: Reichenberg, Glogau, Ohlau, Liegnitz. »Das ist das Holland von Berlin, der äußerste Südosten am Kottbusser Ufer«, schreibt Wilhelm Lösche 1890. »Wo immer man eine größere Straßenlinie verfolgt, stößt man auf das Wasser. Die Mehrzahl dieser Straßen ist schnurgerade, einem der Kanäle parallel, alles neu, himmelhohe, schöne Häuser, verschwenderisch breit die Ufer der Kanäle und Becken selbst. Erst hinter dem Görlitzer Bahnhof wird die Gegend öde, eine unfertige Welt mit fensterlosen Backsteingerippen und Kalkdunst.« Die schöne Wiener Straße entsteht, dann die Reichenberger und die Seitenstraßen zum Kanal hin. Manche Grundstücke bleiben offen, man braucht sie als Lagerplätze für das Holz, das über den Kanal angeliefert wird. Das Haus in der Liegnitzer 18 ist 1894 fertig, die ersten Mieter ziehen ein; das Berliner Adressbuch listet 24 Haushaltsvorstände auf und nennt ihre Berufe: mehrere Tischler, auch Dachdecker, Maurer, Kaufleute, eine Witwe. Der Eigentümer ist Steinsetzmeister Krüger, der selbst in der Dieffenbachstraße 32 wohnt und als Verwalter im Haus den Polizeibeamten Loerke eingesetzt hat. 1905 befindet sich die »Restauration Berthold Krone« im Erdgeschoss, das »Bier-Local« nimmt zwei große Schaufenster ein. Weiterhin leben viele Tischler und Maurer mit ihren Familien im Haus, auch drei Omnibuskutscher und Steinsetzmeister, ein Magistratsbeamter Hübschmann sowie ein Pianofabrikant Hepperle - offenbar ein früher Schwabe in Kreuzberg - und der Handtuchverleih Pößsch. Als Verwalter fungiert der pensionierte Schutzmann Saalfeld. Bald darauf ist der Magistratsbeamte Hübschmann Polizeibeamter und gleichzeitig Verwalter des Hauses. In den zwanziger Jahren öffnet Alois Marschallek seine Schuhmacherei im Haus, die zwanzig Jahre lang dort bleibt und die Nachbarschaft mit neuen Absätzen versorgt. Beileibe nicht der einzige Schuster in der Nachbarschaft! Die Straße rauf und runter sind die Läden in vollem Betrieb: Gegenüber die Wasch- und Plättanstalt Krüger, der legendäre Bäcker Zeidler, der Kohlenhändler Otto, der auch Kartoffeln verkauft. Dazu Gemüseläden, Seifengeschäfte, Tabakläden, Leihbibliotheken, Zuckerwaren, ein Vogelhändler, der im Frühsommer drei Maikäfer für einen Groschen anbietet. In der Liegnitzer 19, also nebenan, hat Bauer Lining noch ein paar Kühe zu stehen. Sie kommen alle zwei Monate im Wechsel auf die Weide; für die Kinder der Straße stets ein Ereignis. Die Kinder spielen Schlagball, murmeln am Rinnstein, trieseln mit Stock und Strippe oder fahren Roller die Gehwege rauf und runter. Dann kommen die Kriege. Und dann die achtziger Jahre. Das Haus steht immer noch, und Kniffki wollte für ein paar Tage wegfahren. Hat er jedenfalls gesagt. Doch in seiner Wohnung läuft seit Tagen das Radio. Kniffki sammelt und bunkert Lebensmittel, legt Vorräte an. Die Berliner Verwaltung lebt das ihren Bürgern vor: Sie unterhält während des Kalten Krieges riesige Lager für Grundnahrungsmittel, Kohle, Treibstoff... – die Senatsreserve. Kniffki denkt, wie jeder gute Prepper, erst mal an sich selbst: Dosen mit Erbsensuppe oder Ravioli, Zwieback, Zucker, Honig. Aber Kniffki hortet auch kistenweise Schrauben und Scharniere, er ist Feinmechaniker, und man kann ja nie wissen. Als die Leute im Haus bei ihm klingeln und klopfen, macht er nicht auf. Jemand hat einen Schlüssel für die Wohnung, man will nachsehen, ob alles in Ordnung ist. Sie öffnen die Tür, doch von innen ist die Kette vorgelegt, Kniffki also zu Hause, er kommt aber nicht an die Tür. Man holt die Polizei, sie verschafft sich Zugang zur Wohnung. Kniffki ist tatsächlich zu Hause, aber die Maden haben sich über ihn hergemacht. Das Haus ist vom edel gestimmten Hausbesitzer für ein paar Mark an junge TU-Studenten übergeben worden mit der Maßgabe, es wieder instand zu setzen, und dann gemeinschaftlich darin zu leben. Also: wöchentliches Plenum, Frauen-WG, Gemeinschaftsküche, alle fassen mit an. Ein linksalternatives Wohnprojekt wie so manche in der Zeit. Es gibt ein paar Altmieter im Haus, zum Beispiel Frau Roese im ersten Stock. Sie wohnt allein, der Mann ist vor einigen Jahren gestorben, die Kinder sind aus dem Haus, und wenn ihr danach ist, dann schreit sie. In der Wohnung darüber geht das der jungen Mutter auf die Nerven, alternativ hin oder her. Sie hat zwei kleine Kinder, muss morgens zur Arbeit; sie hat schon öfter mit Frau Roese geredet, dass das so nicht geht, doch die schreit weiter. Als ihr Mann noch lebte, hat sie ihn manchmal vorgeschickt zu den jungen Leuten über ihnen, wenn die nach den Bauarbeiten lautstark feierten. Er stand im Pyjama in der Tür: »Könnt ihr mal leise sein? Man will ja auch mal schlafen.« Auf dem Plenum wird auch geschrien: »Ihr könnt mich alle mal!« und mit den Türen geknallt. Doch die Meisten bleiben, es bilden sich Paare, die zu zweit wohnen möchten. Kinder kommen an, spielen im Hof, müssen zur Schule. Die Jahre vergehen, die damals junge Generation ergraut, die ersten sterben, dafür rücken andere nach, eine syrische Flüchtlingsfamilie etwa. Gegenüber etabliert sich der indische Späti »Ganesha«. Und unten am Landwehrkanal flanieren jetzt amerikanische Hipster. |









