Kreuzberger Chronik
Mai 2025 - Ausgabe 269

Helmut

Traubensaft


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von Ursula Obermüller

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Helmut liebte das Schauspiel. Es gab Zeitgenossen, die behaupteten, sein Leben sei eine einzige Inszenierung, in deren Mittelpunkt er stehe. Aber seine Liebe zur Inszenierung kleiner Schauspiele war keine Folge von Narzissmus oder Egozentrik, sondern die pure und kindliche Lust am Flunkern.

Er liebte es, Leute an der Nase herumzuführen, auf der Straße den Armen zu mimen und für den Hut Bandoneon oder Klavier zu spielen. Er gefiel sich in der Rolle des sich höflich für jede Spende bedankenden Musikers, dessen Manieren und dessen klassisches Repertoire seinen verwunderten Zuhörern und Zuschauern suggerierten, dass hier wahrscheinlich ein verarmter Philharmoniker auf der Straße saß.

Dass dieser kleine Mann alleine riesige Konzertflügel über die Straßen schob, war allgemein bekannt. So bekannt, dass ihm die Leute nur noch selten jene Aufmerksamkeit entgegenbrachten, die er verdient hatte. Also überlegte er, diese Auftritte noch etwas spektakulärer zu gestalten, indem er einen kleinen Elektromotor unter seinem Rollbrett installierte. Dann könnte er seine Instrumente künftig mit nur einer Hand die Friesenstraße hinaufschieben – in der anderen lässig die Zigarette. Er konnte sich zwei Weingläser lang damit amüsieren, sich die verdutzten Gesichter der Leute auf der Straße vorzustellen.

Es machte ihm Spaß, im Winter bei Minusgraden mit einem beheizten Sitzkissen auf dem Klavierhocker im Freien zu sitzen und Chopin zu spielen. In Sommernächten sah man ihn mit angezogenen Knien und vor der Brust verschränkten Armen oben auf dem Klavier schlafend, ganz nach dem Vorbild des von ihm verehrten Charlie Chaplin.

Gerne spielte er vor der Markthalle am Marheinekeplatz oder vor dem Felix Austria mit den Leberkässemmeln und dem Zweigelt. Sein Lieblingsplatz lag am Ufer des Landwehrkanals, wo die Journalisten allmählich auf ihn aufmerksam wurden. Die ZEIT titelte Straßenmusik: Mozart plus Rente, der Tagesspiegel Kreuzberg ist sein Konzertsaal, während Barbara Bollwahn mit ihrem Titel in der taz der Wahrheit wohl am nächsten kam: Immer mit einem Glas Rotwein.

Der Frau vom Tagesspiegel erzählte er, er habe manchmal nur Traubensaft im Glas. »Wenn ich keinen Rotwein dabei habe, denken die Leute doch, dass ich es nicht mehr lange mache!«, zitierte die Journalistin ihn. Aber Helmut spielte nie, ohne vorher ein Glas Rotwein getrunken zu haben.

Alle schrieben über ihn. Nur in der Kreuzberger Chronik, die er sehr schätzte, wollte er nicht erscheinen. »Nur über meine Leiche. Dann könnt ihr schreiben, was ihr wollt«, sagte er und lächelte. Wenn er noch lesen könnte, würde er auch jetzt wieder lächeln.




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