Kreuzberger Chronik
Mai 2025 - Ausgabe 269

Geschichten, Geschichte, Gerüchte

Die Kuh im Kiez


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von Sergeij Goryanoff

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Kuhstall in Kreuzberg
Kuhstall in der Kreuzbergstraße Postkarte Dieter Kramer


Es ist noch gar nicht lange her, da vernahmen die Kreuzberger zwischen ihren Wohnhäusern hin und wieder noch ein langgestrecktes Muuuhhh. Bis in die achtziger Jahre hinein gab es Kuhställe in der Stadt, die beiden letzten Kreuzberger Institutionen dieser Art lagen in der Kopischstraße am Chamissoplatz und in der Bergmannstraße. Der letzte innerstädtische Kuhstall Berlins wurde 1981 von der Bülowstraße in Schöneberg ins entlegene Rudow umgesetzt. Die Hinterhofkuhställe in den Erdgeschossen fünfstöckiger Wohngebäude waren ein Berliner Kuriosum, und sie hatten eine lange Geschichte.

Sie begann nach dem deutsch-französischen Krieg 1870/71, als die Milch noch über Zwischenhändler aus dem Umland per Bahn in die Stadt kam. Durch den umständlichen Transport fehlte es der Milch oft an Frische. Findige Melker kamen auf die Idee, inmitten der Stadt sogenannte »Abmelkbetriebe« - so die Sprachregelung der bezirklichen Wirtschaftsämter für die Hinterhofställe- zu errichten, um die Städter mit frischer und gesunder Milch zu versorgen. Um 1900 gab es um die 400 dieser Betriebe für inzwischen fast zwei Millionen Einwohner. 1920, nach der Eingemeindung der Berliner Vororte zu Groß-Berlin, wuchs ihre Zahl auf über 2.000.

Doch diese Entwicklung verlief nicht ohne Konflikte. Nachdem Bakterien als Urheber von Scharlach, Typhus und Cholera ausgemacht waren, wurden Hygienekontrollen in den Ställen und eine Sterilisierung der Frischmilch vorgeschrieben. Milchhändler und Molkereien mussten die Preise erhöhen, was zu organisierten Hausfrauenprotesten führte, woraufhin die 1900 gegründete »Zentrale für Milchverwertung« einen Einheitspreis von 11 bis 13,5 Pfennig für einen Liter Milch festsetzte.

Nun kam der berühmte Bolle ( Vgl. Kreuzberger Nr. 235) ins Spiel, der im großen Umfang Milch zu wesentlich günstigeren Preisen aus Polen, Dänemark und Böhmen importierte, was wiederum zu heftigen Auseinandersetzungen mit den Milcherzeugern in der Stadt führte. In die Stadtgeschichte eingegangen sind diese Auseinandersetzungen als »Berliner Milchkrieg«.

Der letzte Kreuzberger Abmelkbetrieb schloss Anfang der siebziger Jahre. Er befand sich in einem Hof in der Kopischstraße 3. Die Milch vom Abmelker war täglich frisch, die Nachbarn kamen noch mit ihren Kannen über die Straße. Um diese Zeit lebten etwa 15.000 Einwohner im Sanierungsgebiet am Chamissoplatz. Heute sind es noch 10.000. Es war jedoch nicht nur die Sanierung, die die Bewohnerzahl schrumpfen ließ, schon vor Beginn der Sanierung Ende der sechziger Jahre setzte ein massiver Bevölkerungsaustausch ein, der zu einer Veränderung der Sozialstruktur führte: Es lockte der Sozialbau!

Vor allem die angestammten Bewohner aus den Altbaugebieten zogen in die modernen, am Stadtrand entstehenden Wohnviertel. Die Mieten waren bescheiden, denn Berlin unterlag der Mietpreisbindung mit festen Miethöhen je nach Ausstattung. Im Altbau zahlte man Anfang der siebziger Jahre für eine Wohnung mit Innentoilette und Ofenheizung zwischen 1,20 bis 1,50 DM für den Quadratmeter. Im sozialen Wohnungsbau mit gekacheltem Bad und Zentralheizung plus Warmwasserversorgung kostete die Anfangsmiete schon 2,10 DM. Doch das Verhältnis von Miete und Einkommen betrug im statistischen Mittel noch immer zwischen 15% und 20%. Heute undenkbar!

Die Gewobag, für die Sanierung der Altbauviertel verantwortlich, kaufte in den sechziger Jahren mehrere Häuser im Chamissokiez. Der Aufstieg zum größten Wohnungseigentümer machte die senatseigene Firma auch zum größten Wohnungsverwalter. Und er war mieterfreundlich: Sah man eine leerstehende Wohnung, genügte ein Anruf zur Schlüsselabholung sowie ein kurzes Gespräch mit anschließender Aushändigung eines Mietvertrages. Heute undenkbar! Damals aber war die Gewobag froh über jeden Nachmieter für jene, die in die neuen Sozialbauten gezogen waren: Ihre verlassenen Wohnungen hatten nur Ofenheizung und nicht selten noch eine Außentoilette.

Die neuen Mieter in den alten Wohnungen waren hauptsächlich türkische Gastarbeiter. Kreuzberg war günstig, der Ausländeranteil wuchs auf 30% an. 1975 erließ der Senat eine Zuzugssperre. Die zweite Gruppe der Neumieter bestand aus Studenten und jungen Leuten, die ebenfalls auf der Suche nach einer günstigen Bleibe waren. Beide Gruppen legten wenig Wert auf frische Milch. Die eine stand den Haltungsbedingungen skeptisch gegenüber, die andere trank lieber abends Bier im Heidelberger Krug als frische Milch in aller Herrgottsfrühe.

Das Leben im Kiez veränderte sich. Freitags und samstags sah man die Neuankömmlinge mit großen LKW´s und überladenen PKW´s vorfahren und Kartons, Umzugskisten, Möbelstücke in die neuen Wohnungen schleppen. Am Samstagabend war dann ein großer Umtrunk angesagt in Kiezkneipen wie dem Godot oder dem Schlemihl. An frische Milch dachte niemand mehr.

Nicht nur die Veränderung der Sozialstruktur bereitete den letzten Kuhbesitzern Sorge. Hinzu kamen neue Hygienevorschriften, zuletzt auch noch die großen Supermärkte mit Regalen voller Flaschenmilch. Und dann eroberte endlich auch das bereits in den fünfziger Jahren erfundene Tetrapack die Regale. Die Menschen mit den Milchkannen verschwanden aus dem Straßenbild und vergossene Milch auf dem Pflaster der Kopischstraße gehörte bald der Vergangenheit an.




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