Kreuzberger Chronik
März 2025 - Ausgabe 267

Reportagen, Gespräche, Interviews

Eine lange Wahlnacht


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von Edith Siepmann

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Bericht aus einem Kreuzberger Wahlokal

Foto: Edith Siepmann



Es ist ein trüber, lauer Sonntagmittag. Eine ältere Frau schreitet die Gneisenaustraße entlang, vorbei an den um Aufmerksamkeit buhlenden Blicken der Spitzenpolitiker: Am U-Bahnhof, zwischen den Stümpfen und Astbergen der gefällten hundertjährigen Platanen, besänftigt Robert Habeck: Wir schützen nicht das Klima, sondern: Menschen. Am Laternenpfahl daneben beschwört Sahra Wagenknecht mit besorgtem Blick: Unser Land zuerst - Für ein Deutschland, auf dass wir wieder stolz sein können.

Gewichtige Worte, wohin man blickt: Zuversicht – Vertrauen - Fleiß -Der Richtige zur richtigen Zeit - Alles lässt sich ändern... - so tönt es von oben und von unten, von rechts und von links. Christian, Friedrich, Olaf, Sibylle, Katrin, Pascal, Kevin, Carmen, sie alle wollen vom Wahlvolk nur eins: zwei Stimmen. Und zwar jetzt und heute.

Charlotte läuft schneller, um 14 Uhr beginnt ihre Wahlhelfer- Schicht. Gerade noch war sie selbst wählen im Leibniz-Gymnasium, wie immer. Viele bekannte Gesichter, die Kreuzberger nickten einander zu, manchmal augenzwinkernd, manchmal müde. Wenig Jüngere waren da, die Stimmung eher bedrückt und still. Der Kiez ist älter geworden. »Es ist vollbracht«, murmelte eine Bekannte beim Hinausgehen. »Muss ja«, ihre Begleitung.

Draußen auf der Schleiermacher Straße läuft ein junges Paar. »Also, ganz ehrlich« sagt sie zu ihrem Freund, »Ich hab mit mir gekämpft.« Charlotte überlegte, welche Partei sie wohl gewählt hat. Wenig später sitzt sie selbst als eine von 36.600 Berliner »Wahlhelfenden« in einem der 3605 Berliner Wahllokale. Sie hatte erwartet, an der Urne zu sitzen, doch sie wurde zur Briefwahlauszählung eingeteilt. Traute man ihr in ihrem Alter nur noch das Zählen zu? Ist sie nicht mehr präsentabel? Egal, es ist das erste Mal, sie ist gespannt.

In diesen unruhigen Zeiten mit täglich neuen Hiobsbotschaften, Kriegen und Tyrannen in Ost und West und Rechtsrucks fast überall - in den USA hatte Trump gewonnen, in Deutschland versuchte die AfD, ihm nachzueifern - hatte sie sich an einem Novemberabend dazu entschlossen, Wahlhelferin zu werden. Sie wollte einmal im Leben selbst als kleines Rädchen in den Mechanismus der repräsentativen Demokratie einrasten, in den Wahlvorgang als Transformationsriemen zwischen Macht und Volk. »Demokratie ist die schlechteste Staatsform – mit Ausnahme aller anderen«, meinte Winston Churchill, aber auch: »Das beste Argument gegen die Demokratie ist ein fünfminütiges Gespräch mit dem Durchschnittswähler«.

Charlotte schrieb eine Mail an die Wahlleitung und bekam Mitte Januar die Einberufung zum bürgerlichen Ehrenamt in die Carl-von-Ossietzky-Schule am Südstern. Aber leider eben nur fürs Briefwahllokal, mit Einarbeitung durch einen einstündigen Online-Lehrgang, für den sie 25 Euro »Erfrüschungsgeld« erhalten würde. Am PC lernte sie von einer echten und sympathisch klingenden Berlinerinnenstimme, wie die »Zweitstümme« gezählt wird und was mit den »Stümmzettel« passiert und wurde sogar freundlich verabschiedet: »Wir danken Ihnen für Ihr Angaschemong.«

Foto: Edith Siepmann
Mittlerweile tobte der mediale Wahlkampf in ungeahnter Intensität. Umfragen, Wahlprognosen – eine Kakophonie der Meinungen, immergleichen Themen und Analysen, die jeden irre machte und die bis in die Kneipen, Freundschaften und Familien hinein krakeelte. Auf einmal sollte sich »Unser Deutschland« in Migranten und Deutsche teilen, in Arbeitsscheue und Sozialsystem-Einzahler, in die Rentner und die junge Generation, in Krieg oder Frieden, in schwarz oder weiß und gut oder böse. Freunde des einfachen Weltbildes kreieren Sündenböcke für alles und jedes, sowie die einfachste Lösung: »Abschieben!«.

»Ick kann ja nich ma mehr det kleenere Übel wählen!«, beschwerte sich Charlottes Nachbarin aus dem Erdgeschoss. Ihr Mann war sich nicht sicher, ob die AfD nicht doch »die richtigen Themen« hat. Der Student aus dem ersten Stock dagegen hatte sich entschieden, in die Linke einzutreten: »Das sind die einzigen, wo man echt was reißen kann. Und die Stimmung ist mega«, hatte Luis geschwärmt. »Fast immer reden die Leute mit uns, wenn wir fragen, was sie für Probleme haben. Okay, einer mit ´nem Thor-Hammer um den Hals hat die Tür zugeschlagen, aber die Oma ohne Zähne und die Tochter im Jogginganzug, die wählen zwar die AfD mit Zweitstimme, aber ich hab sie überzeugt, dass sie die Erststimme den Linken geben. Das mit den Erst- und den Zweitstimmen, das checken viele gar nicht, auch bei den Jungen. Die denken, die erste ist die wichtige und die zweite halt so für ne Spaßpartei.«

Kurz vor der Schule am Südstern orakelt ein Plakat: Das nächste Arschloch wird Kanzler. »Seis drum«, murmelt Charlotte und betritt den Schulhof. Die riesige Schule ist voller Ordnungskräfte in Warnwesten, die die Wahlhelfer an ihre Plätze verweisen und die vielen Fragen nach den Toiletten beantworten. Die Carl-von-Ossietzky-Schule ist das Briefwahlzentrum von ganz Kreuzberg-Friedrichshain und Prenzlauerberg-Ost, einem der 12 Berliner Wahlbezirke mit 220.000 Wahlberechtigten. 63.000 Stimmen sollen in 70 Briefwahllokalen von je acht bis zwölf Leuten ausgezählt werden - nach einem nicht unkomplizierten, vorgegebenen Ablauf.

Alles noch analog und manuell, mit Briefmesser, Zettel, Kugelschreiber, Tesafilm. Charlotte gesellt sich zu den zwei älteren Männern und den vier jüngeren Frauen, mit denen sie die nächsten acht Stunden verbringen wird. Sie sind aus demokratischem Pflichtgefühl gekommen, oder um die Rente aufzubessern oder einfach, um »dabei zu sein« - wie es sich in der Vorstellungsrunde herausstellt. Die Wahlvorsteherin ist ab jetzt der Boss. Um 15 Uhr ertönt ein Gong und die Demokratie-Dramaturgie beginnt:

Erster Akt: 15 Uhr. Rosa Umschläge aus der schwarzen Mülltonne auf den Tisch, zählen, öffnen, Wahlscheinnummer und Unterschrift kontrollieren und Stimmzettelumschläge in die Tonne. Wahlscheine nochmal zählen. Wir haben 604. Protokollieren. Alle sind voller Elan.

Zweiter Akt: 18.15 Uhr. Gong, es geht los. Alle Stimmzettel aus der schwarzen Tonne auf den Tisch. Öffnen, sortieren auf 4 Stapel. Zählen, wieder zählen. Stapel 1 sortieren, zählen, ungültige raus, kontrollieren, protokollieren. Stapel 2 sortieren nach Erst- und Zweitstimme, auszählen nach Parteien, kontrollieren, nochmal kontrollieren, unklare Beschlussfälle raus für später, zählen, nochmal zählen. 19 Ungültige auf die Seite legen. Leere Stimmzettelumschläge durchzählen. Alles geht Hand in Hand, wie in einer Manufaktur. Das Zählen beruhigt, nicht mal die Hochrechnungen lassen laute Emotionen hochkommen, alle sind konzentriert. Nur das Papier raschelt. Es ist hier ja schließlich verboten, sich politisch zu äußern!

Dritter Akt: 21.30. Zahlen stimmen nicht überein, bei den Erststimmen fehlen zwei. Und jede Stimme zählt! Wieder zählen, nur eine Stimme wird gefunden, nochmal und nochmal zählen, wie bei Kafka. Alle sind müde, acht Stunden sind vergangen. Am Ende steht die Differenz im Protokoll. Unterschrift. Ende. Tschüss an alle.

Draußen ist die Luft frisch. Charlotte ist etwas schwindelig. Das Handy zeigt Hochrechnungen. Erleichterung. Vorm Backbord steht ein Schild: Alkohol ist auch nur Wasser mit Gefühlen. Genau!, denkt Charlotte und geht zum Späti Bier holen. Der Mann hinterm Tresen ist zufrieden. »Hauptsache, die Struktur bleibt erhalten und sie nehmen mir nicht das Geld weg, so wie Erdogan!«

Zuhause auf dem Sofa googelt sie die Wahlergebnisse. Die Linken haben wieder mal Flagge gezeigt: 31,7 Prozent! »Kreuzberg bleibt eben Kreuzberg, lieber Churchill«, murmelt Charlotte. »Und Prost!«




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