Kreuzberger Chronik
Juni 2025 - Ausgabe 270

Straßen, Häuser, Höfe

Dresdner Straße 72/73


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von Werner von Westhafen

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Das »halbvergessene« Theater

Thalia Theater, Dresdner Straße 72/73
Das Haus hat viele Male den Besitzer gewechselt, seine Intendanten, sein Aussehen und seine Namen. Zuerst hieß es Alcazar, dann Louisenstädtisches Theater, dann Eden Theater, dann Adolf Ernst Theater... - die längste Zeit nannte es sich Thalia Theater, und ganz zum Schluss, nach dem Krieg, hieß es nur noch »die Theaterruine«. Was sich in all den Jahren nie änderte, das war die Nummer des Hauses in der Dresdener Straße: 72/73.

Begonnen hatte alles mit einem Gasthaus. 1867 richtete Joseph Schnorfeil nicht weit vom Halleschen Ufer ein Lokal ein, nannte es Alcazar und lud zur Eröffnung zu Tanz und Musike im großen Saal. Wahrscheinlich schwang auch Maurermeister Gustav Gause das Tanzbein, jedenfalls fand er Gefallen an dem Saal des Gastwirts, kaufte ein Jahr darauf Lokal und Grundstück, nahm die Maurerkelle in die Hand und baute das Lokal zum Theater um.

Die Bühne in der Dresdner Straße war nicht die Einzige, die in der Südvorstadt entstand, seit das Königliche Schauspielhaus mit der Einführung einer neuen Gewerbeordnung sein Privileg verloren hatte, als einziges Haus die großen Klassiker von Shakespeare oder Schiller aufführen zu dürfen. Innerhalb weniger Jahre entstanden deshalb zwischen Jannowitzbrücke und Halleschem Ufer sechs neue Theater.

Hermann Schreier, der das Louisenstädtische Theater seit dem zweiten Jahr leitete, wollte das Vorstadtpublikum mit Schillers Räuber oder Shakespeares Kaufmann von Venedig nicht überfordern und unterhielt die Kundschaft meist mit Possen wie Der geschundene Raubritter, während er im Sommer mit Musikaufführungen und einer »Sommeroper« Gäste aus der ganzen Stadt anlockte. Doch der ganz große Erfolg blieb aus, selbst ein neuer Name half nichts, auch dem Edentheater waren nur wenige Monate beschieden.

Nun übernahm Adolf Ernst Haus und Hof, verpasste dem Theater seinen humorlosen Namen, engagierte den königlichen Baumeister, legte einen schattigen Garten hinter dem Schauspielhaus an und ließ elektrische Glühbirnen aufleuchten. 1349 Gäste sollen einen Sitzplatz im großen Saal gefunden haben. Doch so pompös wie das Äußere des Adolf Ernst-Theaters, so bescheiden war der Inhalt. Ernst spielte seichte, von Kritikern als »Adolf Ernst-Possen« verhöhnte Stücke, die »alle nach gleichem Rezept« funktionierten: Er begann mit Drei Grazien und Fräulein Feldwebel, gefolgt von den Flotten Weibern und der Wilden Madonna. Blieb dem Publikum bei den platten Witzen das Lachen im Halse stecken, sorgte ein elektrischer »Lach- und Applausapparat« dafür, dass das Publikum in Stimmung kam und keine peinliche Stille eintrat. Den Rest besorgte das alles übertönende Ensemble aus 49 Schauspielern, 33 Chorsängern und 24 Musikern. Ein bissiger Zeitgenosse resümierte, Adolf Ernst, ein »derber Komiker und allzu tüchtiger Geschäftsmann« setze auf »Zoten, bunte Dekorationen und viele nackte Balletteusenbeine. Nur die unerschöpfliche Drolligkeit des dicken Thielscher«, dem Star des Adolf Ernst-Theaters, habe »noch etwas mit Theaterkunst und Berlinertum zu tun.«

Dann kaufte Ernst eine englische Komödie: Charleys Tante. Das Stück wurde ein Renner, Menschenmassen wanderten in die südliche Vorstadt, sogar der Kaiser wollte das Stück sehen. Der dicke Guido Thielscher, mit der Hauptrolle bedacht, war glücklich, während Maximilian Harden, Berlins unumstrittener Theaterpapst, »vor Wut schäumte.« Nach 400 Aufführungen hatte Ernst genug verdient, verkaufte das Haus an die Bank und übergab die Spielstätte den Betreibern des Wallner-Theaters, die die Leitung jedoch schnell an zwei ernsthaftere Theatermacher weitergaben: Jean Kren und Alfred Schönfeld.

Sie bauten das Haus, das nun Thalia Theater hieß, abermals um, gaben ihm eine eindrucksvolle Jugendstilfassade und machten es zu einem »Schmuckstück der Luisenstadt«, wie Manfred Nöbel in der Edition Luisenstadt schreibt. Sie führten die Regie, schrieben die Texte und hatten Gespür bei der Auswahl ihrer Künstler. Sie behielten den dicken Thielscher und engagierten dazu Paul Lincke, der mit seiner Frau Luna bereits die Herzen der Berliner erobert hatte. Er komponierte fürs Thalia den Schwank Bis früh um fünfe in der Luisenstadt, Jean Kren schrieb den Text. »Die Handlung«, schreibt Nöbel, »ist längst vergessen, doch drei Lieder aus diesem Stück gingen um die Welt!«

Mit dem Thalia Theater feierte das Haus seine größten Erfolge. Jeder kannte den Sechs Uhr Onkel und die Hochparterre links und sang vom »Zauber von Berlin, wo man Radau macht Tag und Nacht, bis uns das Herz im Leibe lacht...«. Auch mit Jean Gilbert, dem Nachfolger Linckes, landete das Theater einen Verkaufsschlager: Die Polnische Wirtschaft soll es auf 1600 Aufführungen gebracht haben. Sprachen die für ihre Boshaftigkeit berühmten Berliner Theaterkritiker kurz zuvor noch vom »abendfüllenden Stumpfsinn« und »plumpen Kalauern«, so »entpuppte sich das halbvergessene Thalia Theater plötzlich als die amüsanteste Bühne der Stadt«. 1908 erhielt sie prominenten Besuch aus Österreich, kein Geringerer als der große Alexander Girardi kam in die Luisenstadt.

1914 war alles vorbei. Auch im Thalia Theater wurden die Berliner jetzt auf den Krieg eingestimmt. »Die Chordamen waren schwarzweißrot gekleidet, zum Schluss sang man auf der Bühne feierlich das Deutschlandlied.« Nach dem 2. großen Krieg lag das Schmuckstück der Luisenstadt samt glanzvoller Fassade in Trümmern. Heute ist keine Spur mehr vom historischen Theaterbau zu sehen.

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