Kreuzberger Chronik
Juni 2025 - Ausgabe 270

Reportagen, Gespräche, Interviews

Wer hat angefangen?


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von Michael Unfried

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Demonstranten am Südstern
Foto: Dieter Peters

»Ihr habt Euch neutral zu verhalten, auch wenn es Euch hundertmal nicht passt!«


Es sind 600 Polizisten angerückt, für 1100 Demonstranten. Ein Wasserwerfer, vierzig Polizeifahrzeuge, Krankenwagen. Das Heulen ihrer Sirenen ist lauter als die Megaphone der Protestierenden. Vor der Mauer der Polizisten mit ihren Schutzwesten, Helmen und Schlagstöcken stehen weiß gekleidete Demonstranten, einige haben sich Engelsflügel angeheftet. Die meisten Demonstranten in den vorderen Reihen sind Frauen, vor sich halten sie Tafeln, auf denen steht: Wir trauern um mehr als 18.500 tote Kinder oder Euer Schweigen tötet. Zwischen den weißen Gewändern steht ein Gespenst, ganz in Schwarz, selbst das Gesicht ist verhüllt, im Arm ein kleines Bündel Mensch: ein totes Kind.

Die Polizeilautsprecher verkünden die Auflösung der Demonstration. Polizisten formieren sich zum Angriff, der Wasserwerfer rollt vor. Etwas abseits steht, wie ein Schild auf der Brust verkündet, der Polizeisprecher. Ein Passant geht auf ihn zu und fragt: »Entschuldigen Sie, aber glauben Sie nicht, dass das übertrieben ist? Wenn ich Demonstrant wäre, würde ich mich doch durch eine solche Polizeipräsenz provoziert fühlen. Warum lassen Sie die Leute nicht einfach reden, und dann gehen irgendwann alle wieder nachhause?«

Der Einwand scheint gerechtfertigt. Nur 400 Meter vom Südstern entfernt ist die Friesenwache mit ihren Höfen und Garagen. Hier hätten die Einsatzfahrzeuge, ohne Aufsehen zu erregen, warten können, im Notfall wären sie in fünf Minuten vor Ort gewesen. Am Abend im Fernsehen spricht die Senatorin von einem Angriff der Demonstranten auf den Staat, von Provokation und roher Gewalt.

Nicht weit von der Friesenwache liegt am Platz der Luftbrücke der Monumentalbau des Berliner Polizeipräsidiums mit seiner polizeihistorischen Sammlung. So viele Besucher wie die Museumsinsel kann die Sammlung alter Polizeiuniformen, historischer Waffen und legendärer Kriminalfälle nicht anlocken, doch oft kommen Schulgruppen, manchmal auch Touristen, um sich durch die Gänge mit den Schaukästen führen zu lassen.

An diesem Morgen sind es Studenten des 6. Semesters. Ein paar Wochen noch, dann werden sie den Bachelor in der Tasche haben und ihren Dienst als Polizeibeamte antreten. Sie haben ihr Abitur schon längst hinter sich, doch es hört sich noch an wie ein Klassenausflug, wenn die jungen Frauen vor den langen Äxten und Messern stehen und tuscheln, oder wenn sie die Bronzefigur der nackten Venus beäugen, mit der ein Ehemann seine Frau erschlug. Während die jungen Männer schon mal im Einsatzwagen mit dem großen Bildschirm Platz nehmen und darüber witzeln, welchen Film sie sich ansehen werden, falls die Wirklichkeit ihnen zu langweilig wird. Noch ist alles Theorie.

Der Raum mit der staubigen Vorgeschichte, den alten Pistolen und ihren hölzernen Knäufen zum Duellieren ist interessant - »Kein Wunder, dass die mit diesen Dingern immer aneinander vorbeigeschossen haben«. Aber »den überspringen wa …«, berlinert der pensionierte Wachtmeister, der einmal die Woche die Führungen übernimmt, »und gehen mal gleich ins Dritte Reich. Wer von Euch weiß denn, was den Unterschied ausmacht zwischen der Polizei in einer Diktatur und der Polizei in einer Demokratie? Ihr habt ja alle Abitur, oder...« –

Es ist immer noch wie in der Schule: keiner weiß die Antwort. Der Berliner zieht die Stirn in tiefe Falten. »Also gut: In der Demokratie ist die Polizei einzig und allein dem Gesetz unterworfen, und keiner Partei. Ihr habt in allem, was ihr tut, neutral zu sein, und wenns Euch hundertmal nicht passt.« Die Studentinnen und Studenten nicken brav. »Das erste, was Hitler gemacht hat, als er an die Macht kam, war die sogenannte Säuberung der Polizei: Kommunisten, Sozialdemokraten und Juden wurden entlassen. In einer gesunden Polizei aber sind immer verschiedene politische Strömungen vertreten.«

Einige Studenten hören interessiert zu, andere schauen sich um. Ein junger Mann steht vor dem Glaskasten, in dem wie in einer Modelleisenbahnlandschaft mit kleinen Figuren und Schnee aus Puderzucker der Kreuzberger Schwarzmarkt nach dem Krieg dargestellt ist. Ein anderer steht vor dem Polizeibericht zur Festnahme des Reichstagsbrandstifters: Der Verhaftete steht mit gesenktem Kopf zwischen zwei stolzen Polizisten. Er weiß, ihn erwartet der Tod durch Erschießen: Es ist ein junger Mann, etwa so alt wie der Student.

Ein Stück entfernt steht eine Studentin vor der Fotografie einer jungen Jüdin, die zur Erschießung an die Grube treten muss und ihr Kind schützend an die Brust drückt, während hinter ihr ein Soldat die Pistole auf sie richtet. In der Bildunterschrift steht, dass bei Erschießungen von Müttern mit ihren Kindern zuerst die Kinder zu erschießen sind, damit sie nicht noch heftiger schreien. Alles wird minutiös ge-plant, doch häufig fallen die Sterbenden nicht in die Grube und die Exekutoren müssen selbst Hand anlegen und besudeln sich die Uniformen mit Blut und Hirnmasse. Die Studentin sieht etwas blass aus. Sie hat schon viele blutrote Tatortleichen im Fernsehen gesehen, so ein unscharfes, altes Schwarz-Weiß-Foto noch nie. Und doch....!

»Aber kommen wir zu fröhlicheren Zeiten…«, sagt der alte Berliner und führt die jungen Leute in einen Raum, in dem die rosafarbene Tasche des Kaufhauserpressers Arno Funke mit dem Konterfei Dagobert Ducks ausgestellt ist, oder die Ausrüstung der Bankräuber, die sich in Steglitz einen Tunnel bis zum Banktresor gruben: Gartenschäufelchen, wollene Knieschützer und ein Päckchen Marlboro. »Lustig!«

Im letzten Raum, wo die Jungs schon im Einsatzwagen sitzen, ist noch einmal eine Modelllandschaft aufgebaut. Diesmal kein verschneiter Schwarzmarkt, sondern eine 1. Mai-Demo am Kotti. Daneben das Modell eines besetzten Hauses mit vermummten Bewohnern auf dem Dach und Transparenten vor den Fenstern: Macht kaputt, was Euch kaputt macht! Davor ein Spielzeugwasserwerfer und viele Polizeiwagen. So niedlich die Miniaturen vom Häuserkampf auch zu sein scheinen: Es sind Feindbilder. Ebenso wie die Fotografie einer vermummten Demonstrantin mit dem Titel: »Die Schwelle zur Gewalt sinkt weiter.«

Demonstrantin beim Steinewerfen
Feindbild in der polizeiistorischen Sammlung - Foto: Dieter Peters
Zur Deeskalation werden solche Exponate nicht beitragen. Ebenso wenig wie die Wortmeldung des Innenministers Dobrindt am Tag nach der Demonstration am Südstern: »Gestern wurde auf einer Anti-Israel-Demo in Kreuzberg ein Beamter von aggressiven Demonstranten (…) schwer verletzt, und das ist leider kein Einzelfall...« Noch hysterischer reagierte Berlins Innensenatorin und sah in den Auseinandersetzungen bereits einen »Angriff auf unseren Rechtsstaat. Wer Polizeibeamte angreift, greift uns alle an«. Entspannter sah es eine Erzieherin, die auf dem Heimweg von der Kita in die Demonstration geriet. »Da stellt sich doch die Sandkastenfrage: Wer hat eigentlich angefangen?«

Der RBB wagte es in seiner Berichterstattung, einen emeritierten Professor und Polizeiwissenschaftler, der zwanzig Jahre lang die Berliner Polizei in Deeskalationsstrategien unterrichtete, zu Wort kommen zu lassen. Im Gegensatz zum Minister und zur Senatorin war er vor Ort gewesen, um sich ein Bild zu machen: »Seit dem Oktober 2023 erlebe ich ein grundsätzliches Abrücken der Berliner Polizei von den Grundsätzen der Versammlungsfreiheit. Aus meiner Sicht hat die Polizei hier sehr frühzeitig eskaliert.« Sie könne dem wachsenden Druck nicht standhalten und schaffe es »einfach nicht mehr, entspannter und - ja - zurückgezogener an solche Einsätze heranzugehen.« Sogar die Generalstaatsanwaltschaft wurde eingeschaltet. Auch sie scheut sich nicht, angesichts der Ereignisse am Südstern von »gezielten Angriffen auf Organe des Rechtsstaats« zu sprechen. In der darauffolgenden Nacht starben in Gaza durch gezielte Angriffe mehr als 100 Menschen.

»In einer Demokratie«, erklärte der alte Berliner den Studenten, »seid ihr einzig und allein dem Gesetz verpflichtet. Ihr habt Euch neutral zu verhalten, und wenns Euch hundertmal nicht passt.«

Es wäre lehrreich, wenn die Einsatzkommandos und ihre Kommandeure aus der Politik der polizeihistorischen Sammlung einen Besuch abstatten würden und sich das Bild dieser Mutter ansähen, die vor der Grube steht, ihr Kind im Arm. Sie erinnert an die Frau in schwarz auf der Demo. Es ist egal, wann und wo sie knien oder stehen, es ist egal, in welchem Krieg sie fallen, in welchem Land, Russland oder Ukraine, Gaza oder Tel Aviv.




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