Kreuzberger Chronik
Juni 2025 - Ausgabe 270

Helmut

Zweikämpfe


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von Hans Korfmann

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Helmut wurde im Krieg geboren. Er konnte sich noch an das Donnern der Bomben erinnern und den Hunger, das Gefühl im Magen. Und wie man den etwas schwächlichen Knaben im Rahmen der Nachkriegs-Kinderlandverschickungen eines Sommers in ein Flugzeug setzte, das vorher Kohlen transportiert haben musste, denn es war alles schwarz. Und dass er auf einer Holzbank an der Seite saß, zwischen all den anderen dünnen Beinchen in ihren kurzen Hosen.

Helmut jedenfalls wurde kein Schwergewicht, und ein Riese wurde auch nicht aus ihm. Er gehörte zu den Leichtgewichten. Und wenn er später deutscher Jahrgangsmeister im Turnen wurde und noch als alter Mann nicht ohne Stolz die 500 Kilo schweren Konzertflügel über die Straßen schob und mit seinem »Pythagoras« bis in die vierten Stockwerke hievte, dann könnte das ein Hinweis darauf sein, dass er diesen »Fettwänsten« unbedingt beweisen musste, wie stark er war. Aber es komme, sagte er, gar nicht auf die Muskeln an. »Du musst den Gegner überraschen. Beim Schach genauso wie beim Boxen:«

Eines seiner Vorbilder war der Nulpenwirt. Auch der war eher dünn geraten, allerdings ein Stück größer als Helmut, weshalb er nicht Jahrgangsmeister im Turnen wurde, sondern Meister im Boxen. Wenn Helmut den Nulpenwirt erwähnte, sprach er nicht von »Bernd« oder von »Schulz«, sondern immer »Bernd Schulz.« - stets mit vollem Namen. Und er zog die Augenbrauen hoch, wenn er von ihm sprach. »Bernd Schulz war der Beste. Blitzschnell.«

Vom ihm muss Helmut sich einiges abgeschaut haben. Eines Abends in der Nulpe spielte er Schach, als ein Koffer von Lkw-Fahrer an seinen Tisch kam und begann, ihn zu provozieren. Helmut spielte in aller Ruhe weiter, bis er plötzlich hochschnellte, über den Tisch auf den Gegner zuflog und ihn niederstreckte.

25 Jahre später saß Helmut mit einem Freund in der Bergmannstraße auf der Treppe des Ärztehauses und aß eine Boulette, als ein Securitymann kam und sagte, es sei verboten, hier zu sitzen und zu essen. »Wir essen nur schnell auf und gehen dann!«, sagte der Freund.

Doch der Mann im Kampfanzug wollte Helmut am Arm hochziehen. »Greifen Sie mich nicht an!«, sagte der. »Dazu sind Sie nicht befugt!« Der Angreifer zog den Arm zurück, doch die Lage eskalierte, und als der Sicherheitsmann zum zweiten Mal zupacken wollte, flog ihm der kleine Mann wie ein Pfeil entgegen. Wenig später wälzten sich die beiden am Boden, mal war das Leichtgewicht oben, mal das Schwergewicht. Dann lagen die 100 Kilo mit ausgebreiteten Armen oben. Da griff der Freund ein. Auf dem Weg zum Heidelberger Krug murmelte Helmut: »Ich glaube, du hast mir gerade das Leben gerettet«!


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